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Sonntag, 6. Oktober 2024

Ein Eisenbahnpionier als tragische Figur

 

Friedrich List –  Der Eisenbahnpionier

Friedrich List als tragische Figur?

Spricht man von Friedrich List, liegt es nahe, ihn analog zu einer fiktiven Figur zu beschreiben. Manche bezeichnen ihn als „tragische Figur“. Sein Lebenslauf sei „ziemlich dramatisch.“ Und wie eine fiktive Figur lässt List sich auch charakterisieren. List sei ein  „Menschenfänger“ gewesen, jemand mit Charisma. Man könne auf ihn treffen, während er noch im Bett liegt, ganz unkonventionell, und demungeachtet ein Gespräch mit ihm führen, als seien die Umstände dieses Gesprächs ganz gewöhnliche, wie bei Columbo, das heißt einer fiktionalen Figur.

 

Columbo seiner Zeit

Dieser Vergleich wurde noch verstärkt, als auf die Zigarren verwiesen wurde, und die List auch beim Besuch des Fürsten von Wallenstein rauchte, obwohl dies offenbar höchst ungewöhnlich gewirkt haben muss; andernfalls hätte der Verfasser dieses Berichts, Friedrich Bodenstedt, sich nicht vorher von der seinigen Zigarre getrennt und auch nicht hartnäckig abgelehnt, den Besuch in unpassender Bekleidung durchzuführen. Auch Sätze wie: „Ach so! das hätt‘ ich beinah vergessen“, könnten von dem einen wie dem anderen stammen, in dem Fall stammt der Satz von List.

Abgesehen von diesem sehr direkten Vergleich mit einer konkreten fiktionalen Figur wird List auch manchmal mit Charakteren aus Romanen verglichen, wobei der Vergleich allgemein gemeint war und kein konkretes Bezugswerk genannt wird. Bezüglich seines Endes tauchte ein Vergleich zum Bühnenstück auf, der sich dem Klischee bediente, im Trauerspiel und in der Tragödie sterbe der Protagonist am Ende immer auf eine „dramatische“ Weise, wie durch einen Selbstmord unter solch makaberen Umständen wie List, wo sich der Mann, der später Suizid begehen wird, kurz davor noch beim Büchsenmacher nach der Funktionsfähigkeit seiner Waffe erkundigt.

 

List als Büchner’scher Held

Am Interessantesten ist dabei jedoch, dass in Lists Zeit (1789-1846) auch das nur 23½  Jahre lange Leben Georg Büchners fällt (1813-1837). Büchner war Schriftsteller, u.a. Dramatiker, bekannt für Dantons Tod, Woyzeck und natürlich Lenz. Außerdem stammen auch politisch revolutionäre Schriften von Büchner. Er war Realist und polemisierte Tendenzen zur Idealisierung in der Kunst. Hier sei kurz angemerkt, wie auch die Literatur über List, etwa von Schücking, immer wieder realistische Bestrebungen aufwies und List hier als jemand mit Stärken und Schwächen dargestellt wird.  

Büchners Protagonisten stoßen in der Gesellschaft, die sie mit hervorgebracht hat, an ihre Grenzen. Sie sind keine archetypischen Helden, sondern können auch lasterhafte Personen (wie Danton) oder kleinere Bürger sein (wie Woyzeck). Am Stärksten fallen aber Parallelen zu Lenz auf.  Während List gegen Ende seines Lebens Symptome manischer Depression aufwies, wie aus verschiedenen Berichten hervorgeht, litt Lenz bei Büchner (und auch der reale Jakob Michael Reinhold Lenz) an Schizophrenie. Beide sind keine Gewinnertypen, sondern erfolglos. Lenz stand im Schatten größerer Zeitgenossen der Weimarer Klassik, List wurde zwar angesehen (vor allem in den USA), aber konnte sich von seinem Ruhm (in Deutschland) nichts kaufen – platt ausgedrückt. So wurde ihm immer wieder seine Haft in der Festung Hohenasperg zum Stolperstein und die Kleinstaaterei sowie die Haltung seiner Zeitgenossen hemmten seine Erfolgsmöglichkeiten.

 

Dramatische Rezeption Lists

Man kann also durchaus die reale historische Person List in einer dramatisierten Form sehen bzw. sehen wollen. Daher ließe sich die Frage, ob Friedrich List, betrachtet man ihn als fiktionale Figur und stattet ihn mit Charakteristika aus, die über den realen List in Berichten oder Ähnlichem festgehalten wurden, eine dramatische Figur bilden könnte, durchaus affirmativ beantworten. Durch die Popularität des historischen Friedrich List, die ich ihm zugestehen würde – er ist schließlich auch ein Thema im Schulunterricht und wird auch heute in ökonomischen Debatten gern noch herangezogen, um die Position des jeweiligen Autors zu untermauern – und die Popularität von Historienstoffen im Fernsehspiel oder von Historytainment in Verbindung mit der gerade festgestellten Möglichkeit, Friedrich Lists Lebensverlauf mit der dramatischen Entwicklung einer Geschichte über eine fiktionale Figur zu vergleichen, könnte auch geschlussfolgert werden, dass es einige solcher Werke über List bereits gibt. 

List könnte demnach eine Hauptrolle oder eine charismatische Nebenrolle in einem für das Kino oder das Fernsehen produzierten Historienfilm, einer Fernsehdokumentation oder ebenjenem Historytainment sein.  Dem ist allerdings nicht so.  In der IMDb ist kein Charakter des Namens Friedrich List verzeichnet, obschon sich dort für viele aktuellen Film- und Fernsehproduktionen Daten abrufen lassen.  Auf der Seite der deutschsprachigen OFDb dasselbe. Auch Filme über ihn findet man dort nicht und auch andernorts kaum. Zu bekannteren Persönlichkeiten der Geschichte findet sich dabei üblicherweise immer eine gewisse Anzahl von Werken.

Einzig auf YouTube findet sich eine Dokumentation unter dem Titel Friedrich List –  Der Eisenbahnpionier, oder Der Eisenbahnpionier Friedrich List; ganz klar wird das nicht, da sich im Internet keine Informationen zu dem Film finden lassen.  Zunächst wird Lists Name in Schreibschrift, dann die Bezeichnung in Druckschrift darüber eingeblendet.

In der Tat hätte ich lieber Lists Darstellung in einem bekannteren Werk untersucht; notfalls auch in Historytainment-Formaten à la Die Deutschen, vielleicht zu einem Friedrich-List-Auftritt in einem (Fernseh-)Film; um Lists Darstellung in einem exemplarischen dramatischen Werk zu betrachten, bietet sich aber leider bis auf diesen 30-minütigen Dokumentarfilm des MDR nicht wirklich etwas an. Das YouTube-Video trägt darüber hinaus einen anderen Namen als der Dokumentarfilm und in der Mediathek des MDR, dessen Logo das Bild in der Ecke ziert, findet sich ebenfalls nichts dazu. Auch ein Abspann ist am Ende des Videos nicht zu finden; wahrscheinlich, weil es sich um eine Produktion fürs Fernsehen handelt.

Regisseur ist Roland May, wie aus dem Vorspann, bestehend aus dem Titel des Films und dem Text „ein Film von…“, hervorgeht. Zur Entstehungszeit können nur Vermutungen angestellt werden; der Upload auf YouTube erfolgte am 05.05.2016 und das Fernsehsenderlogo zeigt an, dass es sich um ein High-Definition-Programm handelt, was den Zeitpunkt der Ausstrahlung zumindest auf die Zeitspanne zwischen den frühen 2010ern (seit Ende 2009 sendet die ARD in HD, anschließend nach und nach auch die dritten Programme) und dem Zeitpunkt des Uploads eingrenzt.

Bevor ich weiterhin meine qualifizierten Spekulationen einbringen müsste, etwa, was die Dauer der Doku über ihren Programmplatz aussagen könnte, wandte ich mich an den MDR. Auf meine Nachfrage beim MDR-Publikumsservice hin erhielt ich die Informationen, dass das Programm am Sonntag, den 6. April 2014 um 22:55 Uhr als Teil der Reihe „175 Jahre Ferneisenbahn Leipzig – Dresden“ unter dem o. g. Titel ausgestrahlt worden ist. „Immerhin“ zeigte der MDR die Doku also am Wochenende im spätabendlichen Programm und nicht etwa mittags oder spätnachts. Doch was kann die Doku?