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Sonntag, 5. Mai 2024

A Cinematographic Turn of Mind

„I always had a cinematographic turn of mind. ... I wrote, I shot, I directed, I learned my trade”, so der französische Filmemacher und Karikaturist Émile Cohl. 


Cohls Filme denken in Bewegungen, in einer zeitlichen Dimension, deren Ästhetik im Gegensatz zu seinen Zeichnungen für Printmedien das Fehlen von Unterbrechungen ermöglicht. Man sieht einer Hand beim Zeichnen zu, dann verändern die weißen Linien auf schwarzem Untergrund ihre Form, bewegen sich und  setzen sich zu etwas Neuem zusammen. Eine Flasche wird zu einer Blume wird zu einem Elefanten. In den Zeichnungen Cohls wäre das alles recht witzlos. Im Film funktioniert es. Ein anderes Medium würde die Wirkung nicht ermöglichen. Die Geschichten wurden gemacht, um genau in diesem Medium erzählt werden zu können.

 


Offenbar gelangte Émile Cohl, bzw. Émile Eugène Jean Louis Courtet, durch einen glücklichen Umstand zum Film: Auf einem Plakat wurde eine seiner Karikaturen in der Öffentlichkeit plagiiert, wie überhaupt gern Handlungen von Filmen an Cartoons angelehnt oder gar aus diesen übernommen wurden. Cohl beschwerte sich und bekam ein Angebot, Filme zu machen. Bald darauf drehte er eigene Filme.

Fantasmagorie spielt in einer skurrilen diegetischen Welt. „Immer wieder wurden die Linienzeichnungen Cohls als surreal und in ihrer Auflösung fester Formen als abstrakt bezeichnet.“ Eine Hand taucht auf und erschafft zeichnerisch eine Person. Hitchcock wird der Spruch nachgesagt: „In feature films the director is God; in documentary films God is the director.” Eine solche Stellung wird auch von der Person eingenommen, zu der die Hände gehören; dass auf die Anwesenheit dieses Schöpfers allein durch das Zeigen der Hand verwiesen wird, stellt die Person in eine übergeordnete Position. Und so erinnern die Hände auch an die Wirklichkeit: daran, dass Zuschauer sich auf eine Fiktion einlassen. In Zeichentrickfilmen ist der fiktive Charakter zwar allgegenwärtig, hier wird er aber trotzdem noch einmal betont.


 

Spätere Filme betten Cohls Trickfilme die surrealen Geschehnisse in dieser schwarzen Welt mit weißen formgebenden Linien in eine Rahmenhandlung ein, die als Realfilm gedreht wurde; die Trickfilmsequenz wird zum Traum, der eher ein Albtraum wird (z.B. Le retapeur de cervelles oder Le Songe d’un Garçon de Café), oder zum Fiebertraum unter Opiumeinfluss. Diese Filme erreichen aber nicht mehr die Qualität jener Filme, die Cohl nicht mit einer Realfilmhandlung rahmt.


 Die ständige Möglichkeit, dass sich Dinge verändern und etwas anderes werden können, dass sich der „gefilmte“ Ausschnitt verändert und dadurch (!) etwas Neues in diese diegetische Welt treten lässt, birgt auch Gefahren. „Fantoche“, wie das Protagonistenstrichmännchen genannt wird, darf seiner Welt nie vertrauen. Alles könnte im nächsten Moment anders sein. Harmlosigkeit wird Gefahr, Gefahr wird Harmlosigkeit. Mit Fantoche karikiert Cohl Verhaltensmuster, die in einer afilmischen Realität nie so auf die Umwelt reagieren könnten, oder umgekehrt. Es wäre dort auch nicht notwendig. Im Grunde ist Fantoche eine Figur mit ziemlich negativen Charaktereigenschaften. Gehässig, sadistisch, egoistisch, usw. Dass man in den kurzen Zeichentrickfilmen mit ihm sympathisiert, ist eine Errungenschaft der Umstände, wie sein Auftritt inszeniert wird.

Dramaturgisch fällt etwa auf, dass alles, was passiert, ‚kausal‘ ist, wenn auch die Kausalität stets surrealistisch und abstrakt ist. Bei allen Umwandlungen führt die erste zur zweiten, die zweite zur dritten usw. So wird das Gefühl vermittelt, dass „eine Aktion ohne Unterlass aus der anderen erwächst und die Handlung durch die grenzenlose Phantasie ihres Schöpfers ständig vorangetrieben wird.“

Wobei diese Handlung schwer zu fassen ist, auch wegen der hohen Geschwindigkeit; gleichzeitig ist diese Kausalität nicht wirklich eine Handlungskausalität. Die Ähnlichkeiten zwischen Dingen, die sich zu einem anderen verwandeln, könnten vielleicht auch austauschbar sein. Um beim Beispiel von oben zu bleiben: Flasche – Blume – Elefant. Man verändert die Handlung, in dem man eines dieser Objekte durch ein anderes ersetzt, z. B. eine Blume durch einen Baum. Die Handlung müsste dann angepasst werden, aber A führt nicht zwangsweise über B zu C, sondern A führt zu B, B führt zu C; Die einzelnen Glieder der Kette haben nur einen Bezug zu ihren Nachbarn und nicht darüber hinaus. Dies wird durch eine hohe Geschwindigkeit und die geringe Laufzeit ausbalanciert.

All das geschieht im Rahmen dessen, dass durch die Aneinanderreihung von Bildern der Eindruck von Bewegung erzeugt wird. Dass der Animationsfilm dadurch einen signifikanten Anteil an der Entstehung der neuen Kunstform Film hatte, brachte Alexandre Alexeïeff zu der Aussage,

das ‚reale‘ Kino sei nichts weiter als eine spezielle Abart der Animation, ein billiges, industriell produziertes Substitut, bestimmt dazu, die Kreativität von Künstlern durch Fotografien menschlicher Modelle in Bewegung zu ersetzen.

Versucht man die Abwertung zu überlesen, bleibt der Stolz auf die ‚eigene‘ Kunstform Animationsfilm, bei der nicht reproduziert, sondern konstruiert wird. Cohls Filme konstruieren nicht nur Dinge, sie wandeln sie auch kontinuierlich um. Eine Analyse, die zugleich ein großes Lob darstellt:

Erstmals dämmert hier [in Fantasmagorie] die Ahnung von einer signifikanten Eigenständigkeit der Animation herauf. Cohls Charaktere verweigern jeden Bezug zur äußeren Wirklichkeit, sie agieren autonom in einer grafischen Gegenwelt, die sich auf keinerlei Alltagsempirie mehr abstützt und in der physikalische Gesetzmäßigkeiten ihre Gültigkeit verloren haben. Dass die zweidimensionalen Darsteller beständigen Metamorphosen unterworfen sind, sich permanent selbst konstruieren und dekonstruieren, ist eine filmische Weiterentwicklung von Bildideen, die Cohl bereits in seinen Comicstrips favorisiert hatte.

Dabei konnten die Ideen der ständigen Metamorphose nicht als Comicstrips umgesetzt werden. Cohl brauchte den Film. Der Film brauchte Cohl.

Die weißen Streifen auf schwarzem Hintergrund, die Dinge bilden und wandeln, auftauchen und verschwinden lassen, und so diese Gegenwelt bilden, sind im Grunde alles Fantasmagorien (nicht nur Fantasmagorie, sondern auch Filme wie etwa Le cauchemar de Fantoche oder Un drame chez les fantoches).


 Damit sind auch die herausragenden Werke im Werk dieses herausragenden Künstlers benannt. Auch mit Blick auf die heutige Filmindustrie wären mehr Künstler mit einem cinematographic turn of mind wünschenswert. 


 Unter einigen jungen (Kurz-)Filmschaffenden erinnern dabei auch manche stilistisch an Cohl (was allerdings nicht unbedingt das ist, wofür ich hier gerade plädiert habe). In David Jahns Kurzfilm Gez.: Tod etwa wandeln sich Alltagsszenen wieder und wieder zu „Gegenwelt-Szenen“ mit schwarzem Hintergrund und weißen Linien, in denen das Sterben und der Tod behandelt werden. Die Farben dieser Gegenwelt und die Metamorphose vom Alltag in sie oder aus ihr in den Alltag ähneln Cohls Stil stark und sind sicherlich an Cohl angelehnt. Doch die größeren Trickfilmproduktionen wirken hingegen eher wie Nachahmungen von Realfilmen, bloß in einer phantastischeren Welt.

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JAH

 

 PS: Mein nächster Beitrag beschäftigt sich mit einem meiner Lieblingsfilme, und wie die Paratexte zur Dramaturgie des Films beitragen.


Lesekram

  • Crafton: Emile Cohl, caricature and film
  • Friedrich: Animationsfilm
  • Schoemann: Der deutsche Animationsfilm: Von den Anfängen bis zur Gegenwart 1909 - 2001
  • Liasu: Comment un plagiat permit à Emile Cohl d’inventer chez Gaumont le dessin animé

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