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Donnerstag, 3. Dezember 2020

Hintergrund: Produktionsbedingungen für interessante Ideen

 

In den sechziger Jahren befand sich die US-amerikanische Filmindustrie in einer Phase des Umbruchs. Sie war gezwungen, auf die Veränderungen in dieser Zeit zu reagieren. Hierzu wurde u.a. in den Filmen der Einsatz visueller Reize verstärkt. Die Reaktionen auf die wirtschaftliche Situation waren somit auch künstlerischer Art.

In Korrelation dazu nahm die Macht der Filmkontrollbehörde ab, wodurch im klassischen Hollywood noch tabuisierte Themen in populäre Filme einzogen. Da sich die Filmkontrolle vor allem gegen Sex und Gewalt in Filmen richtete, wurde beides in der Folgezeit zunehmend direkter dargestellt. Resonanzstarke Filme, die sich in dieser Entstehungssituation als Produkte ihrer Zeit zeigen, waren die auch mit ihren Markenzeichen Sex und Gewalt populär gewordenen James-Bond-Filme, die zu den international erfolgreichsten britischen Filmen des Jahrzehnts gehörten.

Passenderweise bietet der erfolgreichste, Thunderball,  ein interessantes Beispiel für die Darstellung von Sex und Gewalt in dieser Situation: Durch die zu den USA unterschiedliche Arbeit der Filmkontrollbehörde im Vereinigten Königreich war für britische Produktionen ein  offenerer Umgang mit Themen und Motiven möglich, die in Hollywood, ggf. zumindest teilweise, noch problematisch waren, da die dortige Filmkontrolle durchaus noch aktiv arbeitete. Daher wird in diesem zweiteiligen Artikel analysiert werden, wie Thunderball Sex und Gewalt vor dem Hintergrund seiner Produktionsbedingungen darstellt, denn das Interesse gilt auch dem Verhältnis, d.h. dem Ineinandergreifen und den Spannungen, von diesen und der Ästhetik der Filme.

Bei der Gestaltung seiner Gewalt- und Sexszenen bewegt sich der Film im Spannungsfeld zwischen konventionsgemäßer und offensiver Darstellung, mit der er auf der Welle der Zeit sein, aber zugleich ein etwaiges Einschreiten der Filmkontrolle antizipieren kann.  Thunderball hält sich bei seiner Darstellung an die Konventionen, geht dabei aber unkonventionell vor. Dadurch, dass der Film von Filmtheoretikern und -historikern bislang kaum betrachtet oder aber nur im Zusammenhang mit seinem finanziellen Erfolg als britischer Film mit dem höchsten Einspielergebnis der Sechziger erwähnt worden ist, wird zusätzlich das Problem einer repetitiven Forschung vermieden, bei der kanonisierte Filme immer wieder unter denselben Gesichtspunkten untersucht werden, wegen derer sie kanonisiert wurden.

 


 

Die sechziger Jahre als Übergangsphase

In den Sechzigern entstand in Hollywood durch verschiedene wirtschaftlich motivierte Entscheidungen der Produktionsfirmen eine neue filmische Ästhetik, das „Sensationskino“. Dieses wird  als ästhetische Reaktion auf die wirtschaftlichen Hintergründe verstanden; in diesem Kontext entstanden auch die James-Bond-Filme. Die Entstehung dieser Ästhetik korrelierte mit der unterschiedlichen Situation der Filmkontrollbehörden im Vereinigten Königreich und den USA, von denen die britische eine freiere Ästhetisierung von Dingen erlaubte, die von der schwächelnden amerikanischen Selbstkontrolle noch tabuisiert wurden. In diesem Kontext nutzten Filmemacher sich dadurch ergebende Möglichkeiten, um zu experimentieren, wie weit sie sich vor allem bei der Darstellung von Sex und Gewalt an Konventionen zu halten hatten oder diese brechen konnten.

 

 

Die Ästhetik des „Sensationskinos“

Retrospektiv betrachtet befand sich die US-amerikanische Filmindustrie in den sechziger Jahren in einer Phase, in der viele Komponenten des klassischen Hollywood zunehmend schwanden, was schon in der Mitte der fünfziger Jahre begonnen hatte. Dennoch konnte sich die Ästhetik des New Hollywood mit ihren Freiheiten in der Darstellung vorher tabuisierter Dinge erst ab 1968 entfalten. Dazwischen wurde bereits, fußend auf den Bedingungen des klassischen Hollywood, unter Beschränkungen mit Darstellungsweisen experimentiert, die im New-Hollywood-Kino schließlich freier ästhetisiert werden konnten bzw. wurden. Es bietet sich daher an, von einer Übergangsphase zu sprechen, in die auch Umbrüche fielen.

Hollywoods Krise charakterisierte sich durch einen starken Rückgang an Zuschauerzahlen durch die aufkommende Konkurrenz durch das Fernsehen; auch die Anzahl der Kinos ging in der Zeit zurück. Auf den sinkenden Gewinn wurde mit einer sinkenden Anzahl von Filmproduktionen reagiert: Die Studios konzentrierten die Budgets eher „Prestigefilme“ mit großen Budgets. Solche boten außer großen Stars oft auch viel Gewalt vor historischen, gerne antiken, Schauplätzen. Bei historischen oder mythologischen Themen wurde von der Kontrollbehörde, wie oft in der Kunstgeschichte, der Umgang mit Gewalt und Sex liberaler gesehen. Dementsprechend wurde der Fokus für Filmproduktionen stärker auf visuelle Reize verlagert.

Aufgrund der ästhetischen Veränderungen, mit denen die Studios auf diese Situation reagierten, kann man diese Zeit als kohärente Epoche des „Sensationskinos“ auffassen, die mit dem Mord unter der Dusche in Psycho begonnen habe und sich durch eine höhere Erzählgeschwindigkeit, Farbfilm, und einen größeren Fokus auf Bild- und Toneffekte auszeichnet.  

Anhand der filmhistorischen Meilensteine, welche in der Filmgeschichtsschreibung oft genutzt werden, um bestimmte Entwicklungen zu markieren, lässt sich die Übergangsphase retrospektiv in zwei Unterphasen einteilen: Die erste in den Fünfzigern zwischen The Man with the Golden Arm (1955) und Psycho (1960), die zweite zwischen diesem und Bonnie and Clyde (1967). The Man with the Golden Arm wird oft dafür hervorgehoben, dass er zwar wegen seiner Thematisierung von Drogensucht keine Freigabe erhielt, aber trotzdem veröffentlicht wurde. In Psycho werden Gewalt sowie die Opfer von Gewalt sehr direkt gezeigt; in der berühmtesten Szene des Films wird die Hauptfigur beim Duschen brutal mit mehreren Messerstichen ermordet. Bonnie and Clyde inszeniert außer etwas Sex vor allem Gewalt und Spaß eng zusammen. Im Gegensatz zu Psycho wurde er auch in Farbe gedreht, weshalb die Gewaltdarstellung weniger gefiltert und dadurch direkter ist.

 

Sieht man die oben genannten Punkte als Kriterien an, um rückblickend Filme als zum cinema of sensation zugehörig zu kategorisieren, erfüllt Thunderball alle. Dabei handelt es sich allerdings um einen britischen Film. Interessanterweise ist er aber komplett aus den USA finanziert, was auf einige britische Produktionen dieser Zeit zutrifft:

Schon in den Fünfzigern kam es vor, dass amerikanische Produktionsfirmen britische Filme finanzierten, wodurch einige aufwändigere Abenteuerfilme entstanden. Die größere künstlerische Freiheit im Vereinigten Königreich, auch ermöglicht durch die dortige Kontrollbehörde,  und die abnehmende Bedeutung des Production Code in Übersee sorgten jedoch auch dafür, dass britische Filme in den Sechzigern international erfolgreicher werden konnten, als zuvor. Sowohl im Hinblick auf die Finanzierung als auch die Distribution wurde das britische Kino internationalisiert.

Eine derartige Vorgehensweise zeigte sich sowohl ästhetisch als auch wirtschaftlich erfolgsversprechend. So fand in dieser Zeit ein Erneuerungsprozess statt, in dessen Logik britische Filme, wie etwa die erfolgreichsten unter ihnen in diesem Jahrzehnt, d.h. Thunderball, Goldfinger, Tom Jones und To Sir, with Love, eine vergleichsweise stärkere Resonanz konnten, gerade in Opposition zur Konvention. Mit ihrer im Verhältnis zum Production Code Spannungen erzeugenden Ästhetik hat diese Art von Filmen insbesondere ein jüngeres Filmpublikum angesprochen.

In den Bondfilmen zeigen sich viele der ästhetischen Entwicklungen der Entstehungszeit. Ergänzt werden die o.g. Merkmale durch eine hohe Dichte an Sex- und Gewaltszenen. Diese konnte allerdings erst durch eine entsprechende Verschiebung der Macht zwischen Filmindustrie und Selbstkontrolle erfolgen.

 

 

Filmkontrolle im Vereinigten Königreich und den USA

Die Arbeit der Motion Picture Producers and Distributors of America (MPPDA) und des British Board of Film Censors (BBFC) in den sechziger Jahren führte zu ähnlichen Entwicklungen in der Ästhetik der von ihnen kontrollierten Filme. Die Auffassung der Kontrollaufgaben war in beiden Fällen allerdings unterschiedlich.

Die MPPDA war ursprünglich ein repräsentativer Zusammenschluss der Produktionsfirmen, arbeitete schließlich aber auch als eine Behörde der Selbstkontrolle, um das Einschreiten staatlicher Zensur zu verhindern. Hierfür nahm sie 1930 den sogenannten Hays-Code an, womit sie sich selbst ideologische und moralische Anordnungen auferlegten. So arbeitete die Behörde nach einer Liste von „Don’ts and Be Carefuls“, an die sich die kontrollierten Filme zu halten hatten. Dadurch konnten Filme entweder universelle Freigaben erhalten oder nicht freigegeben werden. Keine der „Don’ts“ sind gegen Gewalt gerichtet, sondern nur gegen die Darstellung von Nacktheit, Sex zwischen verschiedenen Ethnien etc. Dazu kommen folgende „Be Carefuls“ mit Bezug zu Sex: Mann und Frau zusammen im Bett, Verführung von Mädchen, exzessives lustvolles Küssen, vor allem, wenn einer der Charaktere der Bösewicht ist, sowie Vergewaltigung und versuchte Vergewaltigung. Vorsicht galt außerdem bei der Verwendung von Schusswaffen, Diebstahl, Raub, Tresorknacken, Brutalität, Grausamkeit, Techniken, um Morde zu begehen, sowie Folter.

Insgesamt war die Kontrolle vor allem auf die Eindämmung von antireligiösen Themen, Sex und Gewalt gerichtet. Gewalt darzustellen war dabei weniger problematisch als Sex: Gewalt verkauft Kinotickets, und Filme mit Gewalt erhalten niedrigere Freigaben als Filme mit Sex, weshalb sie eine bessere Investition waren. In Zeiten einer schwächelnden Kontrolle konnten Filmemacher jedoch die nicht als Verbote formulierten Regulierungen ausnutzen.

Andersherum wirkte es sich negativ auf die Macht der Selbstregulierungsbehörde aus, dass die Darstellungsweisen von Sex und Gewalt in der Übergangsphase expliziter wurden. So schrumpfte der Einfluss der Kontrollbehörde zunehmend und wurde im Laufe des Jahrzehnts von verschiedenen juristischen Verfahren zunehmend vermindert.

 

In Großbritannien war das weder rein staatliche noch komplett unabhängige BBFC für die Filmkontrolle zuständig. Dort gab es während der Nachkriegszeit eine abnehmende Strenge in der Filmkontrolle. Künstlerische Erwägungen wurden ab 1948 wichtiger, die Zensur subtiler. Diese Entspannung galt zunächst für ausländische, später aber ebenfalls für britische Filme.

Das BBFC hat seine Arbeit nämlich nicht als simple Durchsetzung von Ge- und Verboten aufgefasst, sondern wollte auf soziale und kulturelle Veränderungen reagieren. Dabei arbeitete es stets im Spannungsfeld zwischen Kräften, die strikt gegen jede Entspannung der Kontrolle waren und einem freieren Zeitgeist von Publikum und Künstlern. Hierzu wurden anders als in den USA beschränkte Freigaben genutzt: 1951 wurde die vorherige Kategorie H (horrific) umbenannt und erweitert, sodass sie dem Publikum eine Altersbeschränkung auferlegte: Filme der neuen Kategorie X durften nur von Leuten im Alter von mindestens 16 Jahren gesehen werden. Somit benötigten britische Filme für die Veröffentlichung im Inland keine universelle Freigabe: Die radikaleren Filme konnten Verbote vermeiden. Sex und Gewalt in Filmen zu zeigen, wurde zunächst nur in geringem Maße, anschließend aber durchaus offensiver möglich. In den fünfziger Jahren wurde Nacktheit erst diskret erlaubt, da sie immer noch mit größeren Risiken verbunden war: Sex, Gewalt, Drogen und Wahn konnten immer noch zum Verbot von Filmen führen.

In der X-Kategorie konnte die Darstellung von Sex und Gewalt expliziter werden, während Filme an der Grenze zwischen A (universelle Freigabe) und X Gewalt und Sex in einem Balanceakt in die Kategorie A einziehen lassen konnten. Durch die so erreichte universelle Freigabe wurde die Darstellung von Gewalt und Sex auch in Filmen mit A-Rating direkter.

Vor diesem Hintergrund sind auch die in oben genannten britischen Produktionen zu verstehen, die sich in diesem Kontext als weniger grenzfällig präsentieren, als sie in dem des populären US-amerikanischen Films erscheinen könnten, da britische Zuschauer über 16 Jahren, und auch jüngere, mehr Gewalt und Sex in Filmen gewohnt waren.

 

 

Gewalt und Sex in Filmen zur Übergangsphase

Die Darstellungsmöglichkeiten von Sex und Gewalt waren im ersten Teil der Übergangsphase, in der sich der Wandel in den sechziger Jahren anbahnte, unterschiedlich: Die Darstellung von Sex war stark eingeschränkt, wohingegen Gewalt unter passenden Umständen direkter gezeigt werden konnte.

Gewaltdarstellungen waren im klassischen Hollywood mit gewissen Einschränkungen möglich. Entscheidend war, um welche Art gewaltsamer Aktionen es sich dabei handelte und wie sie präsentiert wurde. Um dennoch Freigaben zu erhalten, wurde "Substitutionspoetik" eingesetzt, d.h. filmische Metaphern, die den Gewaltakt nur indirekt zeigten, wodurch er implizit dargestellt wurde. Deshalb mussten direktere Darstellungsweisen, wie etwa blutige Szenen britischer Horrorfilme (Kategorie X bzw. vorher H), in den fünfziger Jahren für die Distribution in den Vereinigten Staaten beschnitten werden.

Solche Beschneidungen galten allerdings nur blutiger und brutalerer Gewalt; solange es gegen einen würdigen Gegner ging, wurde explizite Gewalt erlaubt. Unter passenden Umständen war es also durchaus möglich, Filme mit Gewalt zu veröffentlichen, da sich die Kontrolle stärker gegen filmischen Sex richtete.

 

Sex wurde im klassischen Hollywoodfilm nicht explizit gezeigt und musste bis in die späten 1960er Jahre versteckt werden. Um ihn dennoch darzustellen, wurde ein Kuss als Synekdoche eingesetzt. Dadurch habe er den nicht gezeigten und nur sehr indirekt implizierten sexuellen Akt repräsentiert. In der Regel erfolgte diese Kuss-Aufnahme durch einee Halbnahe aufnahme zweier Personen, auf den ein Schnitt oder eine Überblendung folgte. Da Sex somit durch ein wiederkehrendes Muster dargestellt wurde, bei dem auf einen Kuss ein Schnitt folgte, wird diese Darstellungsweise von nun an als „Kuss-Schnitt-Muster“ bezeichnet.

In den fünfziger Jahren gab es Versuche, von diesem klassischen Muster abzuweichen. Als Beispiele bieten sich zwei Filme Alfred Hitchcocks an: In To Catch a Thief (1955) wird ein Crosscutting genutzt, um zwischen Shots zweier sich küssender Personen, verkörpert von Cary Grant und Grace Kelly, und einem zeitgleich draußen vor ihrem Fenster stattfindenden Feuerwerk zu wechseln. In North by Northwest (1959) wird ebenfalls eine Montage eingesetzt, die dort hingegen ihren Effekt durch das Verhältnis nur zweier aufeinanderfolgender Shots gewinnt: So küssen sich die diesmal von Cary Grant und Eva Marie Saint gespielten Figuren im Schlafwagen eines Zuges. Mit einem Schnitt wird zu einer Außenaufnahme gewechselt, die zeigt, wie der Zug gerade in einen Tunnel fährt, was gemeinhin als Repräsentation des Sexualakts interpretiert wird. Formell gesehen handelt es sich bei beidem um Kuss-Schnitt-Darstellungen, aber die auf den Kuss folgenden Shots haben auch eine metaphorische Funktion, da er in Folge auf den Kuss mit Bedeutung aufgeladen wird. Somit werden in den fünfziger Jahren deutlich später als bei der Darstellung von Gewalt ebenfalls Substitutionen eingesetzt, die Ereignisse metaphorisch implizieren. Die Präsentation von Nacktheit und Sex in populären amerikanischen und britischen Filmen wurde in den sechziger Jahren direkter.

Gründe für die größere Strenge bei Sex könnten auf andere sein: Ein Kuss im Film wird dokumentiert, während Gewalt durch Effekte vorgetäuscht wird. Allerdings bedeutet gefilmter Sex nicht zwangsläufig Sex vor der Kamera (abgesehen von expliziten Darstellungsweisen), weshalb diese Erklärung auch nur auf die Ära und Werke der Filmgeschichte zutrifft, in der Sex primär durch das Kuss-Schnitt-Muster dargestellt wurde, wovon in Filmen wie Thunderball abgewichen wurde.

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