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Sonntag, 4. August 2024

Zäsur oder Nicht-Zäsur, das ist hier die Frage

 

Zäsur im Kolonialrausch?

Das deutsche Engagement in Afrika begann schon lange vor der staatlichen Kolonialisierung. Seit den 1830er Jahren überzogen die hanseatische Handelshäuser zunächst ganz Südamerika, dann die Küsten Asiens und Afrikas mit einem Netz von Handelsniederlassungen und Konsulaten – 1846 bereits 162 an der Zahl. In diesen Gebieten waren außerdem auch deutsche Missionare tätig.

Durch den einsetzenden Versuch der  Etablierung des ‚Schutzbriefsystems‘ begann der Staat ab 1884 direkte imperialistische Bestrebungen. Um den regelrechten „Wettlauf“ zwischen Engländern und Deutschen um die Kolonialhoheit südlich des Nigerdeltas zu gewinnen, wurde an Handelshäuser ein Schutzbrief ausgestellt, der ihnen zusätzlich zum gewährten ‚Reichsschutz‘ die Ausübung hoheitlicher Rechte erlaubte. Danach stellte Reichskommissar Gustav Nachtigal ihren Besitz unter ‚Reichsschutz‘, bevor auf der ‚Kongo-Konferenz‘ 1884-1885 die Herrschaftsform festgelegt und die Gebiete von den von Franzosen und Engländern okkupierten Gebieten abgegrenzt wurde.

Daher könnte angenommen werden, dass die die ersten Schutzbriefausstellungen 1884 eine Zäsur in der deutschen Kolonialgeschichte darstellen, da sich demnach ein Wandel von der privaten Verwaltung der Gebiete freihändlerisch erschlossener Handelsniederlassungen in Afrika zur politischen Verwaltung dieser Gebiete durch das Kaiserreich vollzöge.

Andererseits kann die Frage, inwiefern seine Ausstellung nicht bloß notwendig geworden war, gestellt werden. Somit sei der Schritt über diese Schwelle nur ein kleiner, was die Bedeutung der tatsächlichen Ausstellung des ersten Schutzbriefes relativieren würde. Schließlich handelt es sich dabei um einen Teil eines Prozesses, da es sich dabei um eine Reaktion auf vorherige Ereignisse handelt und andere, darunter auch wichtige, wiederum darauf folgen.

Hat also 1884, auf dem Höhepunkt des Kolonialrausch, tatsächlich ein „Kurswandel“ stattgefunden? Und kann der Umbruch 1884/85 als Zäsur in die Geschichte der deutschen Kolonialpolitik eingehen? 

Doch was bedeutet Zäsur überhaupt?

 

Eine historische Zäsur

Im Duden finden sich mehrere Bedeutungsmöglichkeiten für den Begriff „Zäsur“. In allen drei Teildefinitionen taucht übergreifend das Wort „Einschnitt“ auf. Die Frage, welchen Einfluss die Zäsur auf die Entwicklung, in die sie einschneidet, hat, bleibt dabei offen.

Außerdem wird auch die Formulierung „markanter Punkt“ als Bedeutungsmöglichkeit angegeben. Demnach bräuchte eine Zäsur kein Umschlagpunkt zu sein, da ein markanter Punkt auch bloß ein Moment sein kann, in dem eine Entwicklung besonders stark zum Ausdruck kommt, was die Bedeutung des Wortes „Zäsur“ fast schon synonym zum „Meilenstein“ im übertragenen Sinne, den der Duden mit „wichtiger Einschnitt“, „Wendepunkt“,  oder „wichtiges Ereignis“ paraphrasiert,  funktionieren lässt, womit als gemeinsamer Nenner stehenbleibt, dass es sich bei einer Zäsur um ein einschneidendes, wichtiges und markantes Ereignis handele, während ein damit einhergehender Umschlag nicht allgemeiner, sondern spezifischer Art zu sein scheint.

Zäsursetzungen in der Historiographie bringen also Probleme mit sich. Doch kann es konkretere Modelle geben? Laut Matthias Schöning schon:

Alle Ereignisse, die sich – metaphorischer Gebrauch eingeschlossen – als Revolutionen bezeichnen lassen, weil sie plötzlich und veränderungsintensiv in das Leben vieler Menschen eingreifen und deren Alltag gleichsam ‚umkrempeln‘, kommen zugleich als Kandidaten für historische „Zäsuren“ in Frage.

Somit bietet Schöning die, auch metaphorische, Revolution als Synonym an. Seine Formulierung wirft dabei allerdings auch die Fragen auf, inwiefern Revolutionen plötzlich auftreten; auch die Formulierung „viele Menschen“ mit der Relativität von viel ist problematisch. Etwas polemisch könnte ihm entgegengehalten werden, dass er sich hier ein Modell für seine Kritik an der Zäsursetzung zurechtlegt – doch dazu später mehr.

Wird das Wort „plötzlich“ unter der Annahme, dass eine solche Revolution sich durch verschiedene Entwicklungen anbahnt und nur als Ereignis, das dadurch in den Augen der Revolutionäre notwendig geworden ist, aus dieser Definition entfernt, erscheint sein Modell also durchaus anwendbar. So soll der Begriff „Zäsur“ hier als veränderungsintensiv in eine Entwicklung einschneidendes Ereignis verstanden werden.

Aber warum ist es überhaupt so ein großes Problem, in der Geschichtsschreibung von einer Zäsur zu sprechen? So groß, dass Schöning Historikern, die – unter bestimmten Voraussetzungen – von Zäsuren schreiben, die Wissenschaftlichkeit abspricht?

Ereignissen die Bedeutung einer Zäsur zuzuschreiben, ist insofern fragwürdig, da  „die appellative Funktion klar über den Erklärungswert“  dominiere. Demnach gehe es weniger darum, eine sinnvolle Strukturierung der Geschichte vorzunehmen, als um die Stärkung der eigenen Position gegenüber gegenläufigen Meinungen im Diskurs, oder, mit Stephan Packards Worten bezüglich der Zäsur in der Zeitgeschichte ausgedrückt: „Die der Zäsur bestreiten heißt dann, in der Zeit der Zäsur vorgestrig zu sein“.

Damit verzahne sich zudem auch oft eine historiographische Ungenauigkeit:

Der Begriff ‚Zäsur‘ und seine Synonyme scheinen immer dann herangezogen zu werden, wenn es gilt, die Differenz zwischen einem Vorher und einem Nachher zu markieren und als besonders hervorzuheben, ohne sie genauer zu bestimmen.

Demnach handele es sich um eine Form des Autoritätsarguments. Schönings grundsätzliche Kritik gilt also vielmehr dem Historiker, der bei der Konstitution einer Zäsur unwissenschaftlich arbeite, um seine eigene Position wie auch die seiner Arbeit zu stärken: „Der eigene Forschungsgegenstand hat ein größeres Gewicht, wenn er nicht nur als Ereignis, sondern als ‚Zäsur‘ angesprochen“ und somit dramatisiert wird.

Dramatisieren bedeutet in diesem Zusammenhang, etwas so aufzubereiten, dass jemand emotionales Interesse dafür gewinnt, es mit Spannung verfolgt, ‚wie ein Drama‘, was hier nicht nur als die literarische Gattung, sondern als „Oberbegriff für Theater, Film und Fernsehen – d. h. aller Darstellungsformen, die im Sinne der aristotelischen Tragödiendefinition als eine mímēsis drōntōn, Darstellung handelnder (= leibhaftig agierender) Menschen, bezeichnet werden können“, verstanden wird. Mit dem Zweck, die Rezipienten emotional zu stimulieren, können auch Übertreibungen eingesetzt oder Objektivität und eine differenzierte Betrachtungsweise ignoriert werden – was wir beispielsweise aus dem Historytainment à la Guido Knopp kennen. Finden in der Gescichtsschreibung Dramatisierungen statt, werde ein Sachverhalt nicht in einem angemessenen Umfang, sondern nur unvollständig, bzw. vereinfacht, dargestellt, was nicht den Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit entspricht.

Ähnliche Argumente wie Schönings in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ähneln der Kritik am Hisorytainment. Daher können diese in gewisser Weise übertragen werden: So schreibt Hans-Christian Friedrich Kimmelüber die Formate Guido Knopps, dramatisch ganz im Sinne unserer Definition, dass es sich bei dieser dramatisierten Form, bzw. bei der Vermittlung von Geschichte auf emotionaler Ebene, um ein unter Historikern fragwürdiges Verfahren handelt.

Ein Beispiel mit Themenbezug, eine sehr bildliche und fast schon abenteuerlich anmutende, spannungsaufbauende Narration, bietet sich in einer Monographie des o. g. populären Historikers an, die auch im Titel schon von Abenteuern spricht:

Frühjahr 1883: An der verlassenen Sandküste von Südwestafrika hissen einige Abenteurer die Fahne des Kaiserreichs. Ein historischer Moment: Der erst seit wenigen Jahren geeinte ‚kleindeutsche‘ Nationalstaat schickt sich an, in die Reihe der Kolonialmächte aufzusteigen. Ein Jahr darauf stellte Bismarck den Besitz, den der Kaufmann Adolf Lüderitz für einige Hundert Pfund Sterling und ein paar Gewehre von lokalen Stammesführern zusammengerafft hatte, unter den Schutz des Reiches.

Der Konflikt zwischen wissenschaftlich sauberer Arbeit und Unterhaltungswert wird hier schon offenbar.

Aber kann ein Zäsurmodell bei aller Kritik auch zur sinnvollen nachträglichen Strukturierung der Geschichte genutzt werden?

 

Das Schutzbriefsystem

Zur Annäherung an die Bedeutung von 1884/85 ist es sinnvoll, zunächst zu charakterisieren, was die Phase des freien Handels und jene der Reichskolonialverwaltung verbindet und was sie trennt.

Nachdem sich seit Ende der 1870er Jahre größere Gruppen der Gesellschaft des Kaiserreichs für Kolonien interessierten und unterschiedliche Erwartungen oder auch Hoffnungen an sie knüpften, was etwa in der Kolonialpublizistik reflektiert wird, war die Befürchtung der bereits in Afrika ansässigen deutschen Handelsleute vor einer staatlichen Einflussnahme zunächst größer als die Erwartung von Vorteilen dadurch. Das liegt daran, dass ihnen staatlicher Schutz, der nicht zwangsläufig vom Kaiserreich kommen musste, was sich z. B. an den bis 1889 unter englischem Schutz stehenden deutschen Handelsniederlassungen in Lagos zeigt, bisher punktuell-situativ genügte.

Das Vordringen englischer und französischer Imperialisten und deren Aufteilung westafrikanischer Gebiete untereinander wurde jedoch als politische Bedrohung wahrgenommen, weshalb die Handelsleute von einer betont freihändlerischen Position zur Forderung nach einer aktiven deutschen Kolonialpolitik umschwenkten.  Die Unternehmen benötigten dauerhaften Schutz, was nur durch eine direkte Ausübung von Hoheitsrechten durch das Kaiserreich gewährleistet werden konnte, weil die Unternehmer sich weigerten, solche Rechte selbst auszuüben. Deshalb baten sie auch um staatliche Eingriffe, um weiterhin in einem System, das Gewinne privatisiert und Verluste vergesellschaftet, arbeiten zu können: Die Unternehmen würden die Profite einstreichen, die Kosten müsste das Reich, vor allem aber die Afrikaner und Afrikanerinnen tragen.  

Damit auch die deutschen Interessen eingebracht werden würden, lud Bismarck zur Berliner Westafrika-Konferenz 1884/85, die, da es dort insbesondere um die Situation im Kongo ging, oft auch als ‚Kongo-Konferenz‘ bezeichnet wurde. Dieser Wandel ist demnach vor allem ein Wandel der Haltung der Wirtschaft, der aus der lokalen politischen Situation entsprang und dem wiederum ein politischer folgte. Auf deutscher Seite ging die Initiative also vom Handel aus.

Den ersten Erfolg bei einer Bitte um Reichsschutz verbuchte der Bremer Adolf Lüderitz, was den „definitiven Umschlagpunkt“ vom informell-indirekten Freihandelsexpansionismus zum direkt-formellen Kolonialbesitz darstellt.

Nachdem Lüderitz wiederholt vergeblich bei der Reichsregierung um den Schutz seiner Erwerbungen nachgesucht hatte, bedeutete die Erklärung des Reichsschutzes über seine Erwerbungen vom 24. April 1884, die im Zusammenhang mit der Westafrikamission des Reichskommissars Nachtigal stand, den definitiven Schritt zu einer deutschen Kolonialpolitik.

Entscheidend ist jedoch nicht die Bitte an sich, sondern die als notwendig erachtete Reaktion, die deutschen Wirtschaftsinteressen in Westafrika zu schützen. Immerhin wurden frühere Schutzgesuche, wie etwa Friedrich Fabris, in den 1880er Jahren noch abgelehnt. Fabris, der „Vater der deutschen Kolonialbewegung“ vertrat allerdings keine ortsansässige Firma, sondern war in der Mission und Publizistik tätig. Auch andere Einflussmöglichkeiten der deutschen Politik in Afrika hatte Bismarck zuvor abgelehnt. Demnach war der Schutz der Wirtschaft anscheinend ausschlaggebend für die Ausstellung der ersten Schutzbriefe.

Für die Ausstellung von Schutzbriefen seien somit wirtschaftliche Interessen der Antragsteller notwendig gewesen. Ergo war Bismarck primär an wirtschaftlichen Vorteilen durch ortsansässige Firmen interessiert, was auch Carl Peters ausnutzte, der mit der GfdK Gesellschaft für deutsche Kolonisation auf einem Konquistadorenzug größere afrikanische Gebiete erwarb und diese 1885 unter Reichsschutz stellen ließ, bevor sie das Territorium danach weiter vergrößerten. Peters habe seine Gebietserwerbungen mit konkreten ‚territorialen‘ Absichten, seine Zugeständnisse an Bismarck über wirtschaftliche Zwecke dieser Erschließungen hingegen aus taktischen Gründen gemacht. Diese Einschätzung erscheint angesichts dessen, was der Ausstellung des ‚Reichsschutzes‘ über diese Gebiete folgt, sinnvoll, da Peters tatsächlich keine wirtschaftlichen Absichten, wie Bismarck sie sich vorgestellt hatte, verfolgte. Dessen wirtschaftspolitische Hoffnungen an die Gebiete blieben unerfüllt, womit sich „auch in diesem ‚Schutzgebiet‘ zwangsläufig der Wandel vom Schutzbriefsystem zur direkten Reichskolonialverwaltung“ vollzog. Hier wurden von Seiten des Reiches an die neuen Gebiete bestimmte Erwartungen geknüpft, die jedoch nicht erfüllt wurden, womit die Präferenz der Ausstellung von Schutzbriefen zu wirtschaftlichen Zwecken ad absurdum geführt wurde.

Ein zweiter wichtiger Punkt, nämlich die Entsendung Nachtigals, wurde schon vorweggenommen. Die deutsche Souveränität über bestimmte Gebiete wurde durch ebendiesen, zur Sicherstellung des nicht unbeträchtlichen deutschen Handels, im Juli 1884 erklärt, was allerdings nicht seiner eigentlichen Aufgabe entsprach. Tatsächlich wurden ‚Reichskommissare‘ anschließend öfter nach Afrika gesandt, da die Handelshäuser eher an wirtschaftlichem Gewinn als an der Ausübung von Hoheitsrechten, die sich Bismarck für sein ‚Schutzbriefsystem‘ von diesen erhofft hatte, interessiert waren. Ein berühmtes Beispiel für eine Ausnahme bilden die Firmen C. Woermann und Jantzen & Thormälen, deren Rechtsausübung an ihrem Standort 1883 einige Gebiete vor englischer Annexion bewahrte. Diese Rechtsausübung dauerte allerdings auch nur ein Wochenende lang,  womit sich die generelle Haltung der Wirtschaft gegenüber dieser Ausübung anschaulich zeigt.

In der Regel mieden die Handelshäuser sowie auch die eigentlich genau dafür gegründete Deutsche Kolonialgesellschaft für Südwestafrika finanzielle Risiken, weswegen 1887 eine als Forschungsexpedition getarnte Schutztruppe nach Südwestafrika geschickt wurde, was man nach der Entsendung des Reichskommissars 1885 als den zweiten entscheidenden Schritt auf dem Weg zur Etablierung einer „formell-direkten Territorialherrschaft“ einschätzen kann. In beiden Fällen wurden nicht bloß schriftliche Erlasse, sondern Personen mit staatlichen Befugnissen nach Afrika geschickt, um diese dort auszuüben.

Aber woher kommt Bismarcks Motivation, den Besitz der Handelshäuser in dieser Situation unter ‚Reichsschutz‘ zu stellen? Gab es einen „Kurswandel“ in Bismarcks Politik?

Im historischen Diskurs werden Bismarck wirtschafts- und sozial- sowie situative innen- und außenpolitische Motive für die Ausstellung der Schutzbriefe zugesprochen, wobei eine etwaige Aufstellung einer Art Hierarchie in dieser Frage vermutlich abhängig von der jeweiligen Schwerpunktsetzung wäre, da die komplexe Gesamtsituation ihre Wirkung in die Kolonialpolitik hineingetragen haben wird.

Mit Blick auf Bismarcks Politik ließe sich die These aufstellen, dass der Kanzler des Kaiserreichs nach 1884 Kolonialpolitik betrieb, um Politik, nicht, um Kolonialpolitik, zu machen. Das würde bedeuten, dass es 1884/85 keinen grundlegenden „Gesinnungswandel“ bei Bismarck gegeben habe, sondern dieser seine Politik nur mit anderen Mitteln fortführte und sich der Weg zur formellen Kolonialherrschaft aus der Situation im Kaiserreich, in Afrika, Europa und der Welt entwickelte.

Dafür sprechen die Überlegungen, dass Bismarck Kolonien entsprechend seines Modells des „europäischen Gleichgewichts“ in außenpolitischen Fragen als „Kompensationsobjekte“ genutzt habe, was sich etwa beim Helgoland-Sansibar-Abkommen von 1890 zeigt, oder, dass er seine Haltung zu Kolonien innenpolitisch taktierend einsetzte, um sein Verhältnis zu den Parteien und auch anderen Interessensgruppen, sowohl aus der Wirtschaft als auch aus der Publizistik, zu balancieren. Setzte er seine politischen Ziele nun mit Kolonien fort, liegt es also nicht nahe, von einem Wandel zu sprechen. So könnten andere politische Felder in die Kolonialpolitik hineingewirkt haben und andersherum, sodass eine Reaktion darauf schlichtweg nötig wurde.

Bismarcks anfängliches Modell für ein koloniales System, das Schutzbriefsystem, das vorsah, die „Schutzgebiete“ – ein eigens von ihm erfundenes Wort, um die überseeischen Territorien nicht „Kolonien“ nennen zu müssen – möglichst weitgehend der Eigenverantwortlichkeit der kommerziellen Überseeinteressen zu überlassen, scheiterte somit letztendlich an den wirtschaftlichen Interessen der Wirtschaft. Sein Konzept eines freihändlerischen kommerziellen Expansionismus und einer Laisser-faire-Überseepolitik ging nicht auf und wurde nach seiner Amtszeit, als unter Kaiser Wilhelm II. eine offensivere Weltmachtpolitik angestrebt wurde, ad acta gelegt.

 

Brüche, Kontinuitäten und Transformationen

Auf der Schwelle vom freihändlerischen Expansionismus zum Schutzbriefsystem fanden Brüche, Kontinuitäten und Transformationen auf verschiedenen Ebenen statt. Betrachtet werden im Folgenden daher die Auswirkungen der Schutzbriefausstellung und der ‚Kongo-Konferenz‘ aus rechtlicher, politischer und sozialer Perspektive.

Zunächst soll die Ausstellung des ersten Schutzbriefs auf rechtlicher Ebene untersucht werden. Für Dirk van Laak stellt der 27. April 1884, als Bismarck den deutschen Konsul in Kapstadt telegraphisch anwies, die Besitzungen des Kaufmanns Adolf Lüderitz in Südwestafrika unter deutschen Schutz zu stellen die „Geburtsstunde des deutschen Kolonialismus“ dar, was angesichts dessen, dass van Laak die Infrastruktur in den deutschen Kolonien untersucht, durchaus nachvollziehbar ist. Dabei werde keine Rechtsvorstellung herangezogen, die eine Kolonisation ‚erlaubt‘ oder ‚legalisiert‘.  Somit könnte Bismarck auch andere Gründe für die Bezeichnung der Erwerbungen als ‚Schutzgebiet‘ gehabt haben als die bloße Vermeidung des Wortes ‚Kolonien‘, sondern eine „Effektivität der Erwerbungen.“ Das bedeutet, in den besetzten Territorien Recht und Ordnung, vor allem zugunsten des Handels, aufrecht zu erhalten, was auch heißen musste, es zuvor für die Verwaltung und den Markt zu ‚öffnen‘ und infrastrukturell zu erschließen. Stellt man hierzu die Frage, von welchem Recht und welcher Ordnung die Rede sei, nähert man sich der Bedeutung dieser in den ‚Schutzgebieten‘ künftig geltenden Rechtslage entscheidend an.

Neu war also, dass das Kaiserreich nun in Form einer Kolonialverwaltung staatliche Gewalt ausüben würde, was in den betroffenen afrikanischen Gebieten einen Wandel auf politischer Ebene bedeutete, wobei einige frühere Strukturen als Binnenstrukturen noch in ähnlicher Form beibehalten wurden. Einerseits sollte dies im Schutzbriefsystem durch ebenjene an Privatpersonen ausgestellten Schutzbriefe geschehen, andererseits wurden Reichskommissare und auch militärische Truppen direkt zur Durchsetzung ebenjener Ordnung entsandt.

Die Durchführung einer systematischen ‚Befriedung‘ des Binnenlandes, bzw. das Eindringen in küstenfernere Gebiete, ist ebenfalls neu, obschon die Idee, ins Landesinnere vorzudringen, schon vorher gegeben war.

Mit dauerhafter militärischer Präsenz im Rücken änderte sich das Vorgehen der Kolonisatoren dabei: Waren anfangs für die dortige Politik noch Verhandlungen für Vertragsschließungen mit Afrikanern nötig, wurden diese bald durch Gewalt gegen Personen und deren Eigentum erzwungen oder ersetzt. Dieser Übergang war sogar vertraglich vorprogrammiert, denn die Falle lag in „linguistischen Feinheiten“ die den afrikanischen Unterzeichnern vermutlich entgingen, etwa bei Formulierungen wie: „… daß in der ersten Zeit die Sitten und Gebräuche der Eingeborenen möglichst respectiert werden sollen.“ Solche Verträge führten zur völligen Preisgabe der politischen Souveränität, aber auch zum Verlust des gesamten Grund und Bodens.

Auf sozialer Ebene sollte die Einwanderung aus dem Kaiserreich die gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändern, was sich auch mit der Etablierung einer staatlichen Kolonialverwaltung verzahnte. Bei der Etablierung sozialer Hierarchien handelt es sich um eine Folge der politischen Auswirkungen: Aus ‚Schutzgebieten‘ wurden später auch formell gesehen Kolonien, was koloniale Herrschaftsstrukturen mit sich zog, bzw. womit deren Entwicklung noch offensiver forciert wurde.

Durch die deutsche Einwanderung änderte sich außer der Hierarchie auch die Gesellschaftszusammensetzung in Afrika; da diese Aus- und Einwanderungen auf Gegenseitigkeit beruhten, wenn auch nicht in gleichem Umfang, hatte die Kolonialisierung überdies auch rückwirkende Einflüsse auf die Gesellschaft der Kolonisatoren.

Nachdem die ersten Schutzbriefe ausgestellt worden waren, konnten afrikanische Gebiete auch zum bloßen Zweck der späteren Ausstellung eines Schutzbriefes, also mit kolonialistischen Besitzbestrebungen, von Privatleuten in Besitz genommen werden, wie es im Fall Peters geschah. Damit änderte sich auch die Art der territorialen Expansion.

 

 

1884/85: Zäsur oder nicht?

Die Zeit um 1884/85 stellt eine Übergangsphase von privater zu staatlicher Expansion und damit auch einen Übergang von der informellen Kontrolle zum formellen Kolonialismus dar. Durch die imperialistischen Interessen Englands und Frankreichs in den Gebieten in der Nähe der Niederlassungen deutscher Handelshäuser entschied sich der Staat dazu, zum Schutz der deutschen Wirtschaftsinteressen die entsprechenden Gebiete zu ‚Schutzgebieten‘ zu erklären. Diese Entscheidung entsprang einer Situation, in der es den Akteuren durch mehrere zeitgleich aufkommende Umstände günstig erschien, aktiv Kolonialpolitik zu betreiben. Formell gesehen sticht dabei besonders der Moment hervor, in dem das Recht des Kaiserreichs auf die Schutzgebiete erklärt wurde, womit die Erwerbungen zugunsten einer Effektivität (s. o.) gestaltet werden würden – also die ‚Kongo-Konferenz‘.

Die Ausstellung der ersten Schutzbriefe ‚erzwang‘ gewissermaßen diese Erklärung zu den zugrundeliegenden Rechtsvorstellungen: Mit dem Erwerb der Kolonien war auch Deutschland damit konfrontiert, eine Stellung zur Herrschafts- und Eigentumsfrage entwickeln zu müssen. Die Gebiete genossen somit schon einige Monate lang ‚Reichsschutz‘, bevor die Frage, was dies denn bedeute, geklärt wurde, was unüblich wirkt und nahelegt, dass der Erwerb bestimmter Gebiete zur Verwaltung durch das Kaiserreich weitaus weniger systematisch forciert wurde, als bei anderen imperialistischen Nationen.

Angesichts dessen könnte die Frage, ob 1884/85 eine Zäsur in der deutschen Kolonialgeschichte darstellt, mit ja beantwortet werden, doch als ‚eigentlichen‘ Umschlagpunkt in der Außenpolitik könnte man vielmehr Bismarcks Abgang sehen, auf den ein außenpolitischer Kurswandel folge.

Die Phaseneinteilung wäre dann die folgende: Der „Experimentierphase“ bis zu Bismarcks Abgang folge die „heroische“ Kolonialphase, welche schließlich durch die „Reformphase“ unter Bernhard Dernburg abgelöst werde. Dieses Phasenmodell legt sein Hauptaugenmerk auf das jeweilige Agieren vor Ort; die realpolitischen Auswirkungen dieser Entwicklung für die Afrikaner blieben zunächst aber gering. Die „Ära Dernburg“ hat hingegen tatsächlich eine Wende in der deutschen Kolonialgeschichte eingeleitet. Angesichts dessen, dass 1884/85 immerhin die Weichen für die nachfolgende Kolonialisierung gestellt wurden, kann der ‚Kongo-Konferenz‘ in diesem Phasenmodell die Bedeutung in einer Zäsur innerhalb der „Experimentierphase“ zukommen.

Mit Blick auf die Eigenschaft von Zäsuren, dass ein Ereignis seine Bedeutung nicht aus sich heraus, sondern erst durch deren Konstruktion habe, muss dabei kritisch hinterfragt werden, weshalb diese Konstruktion hier erfolgt. Der Grund hierzu ist eine sinnvolle rückblickende Strukturierung der Geschichte. Dadurch, dass es sich hier um eine konkrete Gesetzgebung, durch die nun Deutsche in Afrika ‚Recht und Ordnung‘ durchsetzen würden, handelt, träte dabei das Problem, den Zäsurcharakter erst zu konstruieren, nicht auf; gewisse Kontinuitäten über eine Zäsur hinweg lassen sich schließlich immer finden. Das Wort „Zäsur“ sollte man in der Geschichtsschreibung schließlich auch nicht überschätzen. Dagegen sollten die o. g. vor allem politischen Auswirkungen aber auch nicht unterschätzt werden.

 

Von einer Epoche in die nächste

Ist mit „Zäsur“ ein wichtiger Punkt gemeint, an dem sich etwas ändert bzw. sich eine Änderung zeigt, durch die sich die Phase nachher von jener vorher hinsichtlich der jeweils betrachteten Kriterien unterscheidet, dem eine Entwicklung vorangehen kann und eine folgt, kann die ‚Kongo-Konferenz‘ mit Blick auf Charakteristika von Epochenschwellen dabei als Zäsur in der Geschichte der deutschen Kolonien in Afrika gelten. Einerseits entstand das Schutzbriefsystem aus der Bedrohung der Wirtschaftsinteressen. Seine Konstitution verzahnte sich dabei mit einer politischen Lage, in der der ‚Eiserne Kanzler‘ die Kolonialpolitik wohl vor allem taktierend einsetzte. Andererseits entstand es aus einer größeren Entwicklung heraus, die offenbar bereits mit den ersten privaten expansionistischen Aktionen begann.

Durch die neue Rechtslage in den ‚Schutzgebieten‘ wurde dabei ein politischer Wandel, dem einer auf sozialer Ebene folgte, in Kraft gesetzt. Bismarck hatte einem System, auf das seine Politik offenbar nicht direkt abzielte, sondern anfangs noch vermeiden zu versucht hatte, den Weg geebnet und führte das Kaiserreich in den Imperialismus; quasi eine besondere Form des „the flag follows the trade“ -Prinzips.

Dass die deutsche Kolonialpolitik jene neue Rechtslage erst dann definierte, nachdem diese mit der Erklärung der okkupierten Gebiete zu ‚Schutzgebieten‘ einsetzte, fächert den Moment des Umschwungs dabei auf; die in Berlin getroffenen Regelungen sind dabei wegweisend und somit der eigentliche entscheidende Punkt. Ob die Festlegung dieser neuen Rechtslage aber als Zäsur in der deutschen Kolonialgeschichte oder nur eine innerhalb der kolonialen Phase unter Bismarck gesehen werden sollte, hängt vom jeweils gesetzten Fokus ab.

Ein Problem bei der Konstitution einer Zäsur in der Geschichtsschreibung geht darauf zurück, dass Autoren sie etwa als eine Form eines impliziten Autoritätsarguments einsetzen und die Historie oberflächlich und vereinfacht betrachtet wird, wobei diese Gefahr hier durch die Betrachtung auf verschiedenen Ebenen antizipiert werden sollte. Dass weder die Geschichte des Schutzbriefsystems noch Bismarcks Motivation, aktiv Kolonialpolitik zu betreiben, hier in vollem Umfang wiedergegeben werden konnte, liegt darin begründet, dass eine solche Wiedergabe durch die zu diesem Thema bereits vorliegende Literatur ohnehin nicht notwendig ist, obschon es in der Forschung zum deutschen Kolonialismus durchaus noch Lücken gibt.

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JH

 

PS: In meinem nächsten Beitrag geht es um einen Fernseh-Ermittler mit Zigarettenstummel und zerknittertem Regenmantel, der nie so ganz in sein Umfeld passen wird, und wie die Serie zeitgenössische Diskurse aufgreift.

 

Lesekram

  • Bade: Die „Zweite Reichsgründung“ in Übersee
  • Gründer: Geschichte der deutschen Kolonien
  • Kimmel: Historytainment: Analyse und Kritik – exemplarisch dargestellt anhand der Sendungen von Guido Knopp und Michael Kloft
  • Knopp: Das Weltreich der Deutschen. Von kolonialen Träumen, Kriegen und Abenteuern
  • Packard: Die Rede von der Zäsur
  • Schöning: „Zäsur“. Probleme einer historiographischen Angewohnheit

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