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Sonntag, 1. Dezember 2024

Knopps Helfer

Zeitzeugen im Fernsehen: Hitlers Helfer

 

Istor Knopp, Historiker, Fernsehmoderator, Provokateur

Das Wort „Zeitzeuge“  ist uns allen bekannt, aber tauchte erst in den siebziger Jahren auf und wurde insbesondere im Folgejahrzehnt populär. Es beschreibt Personen, die vorzugsweise die NS-Geschichte, aber auch andere historische Ereignisse oder Phasen miterlebt haben und dadurch seit der Nachkriegszeit aus eigener Erfahrung über zeitgeschichtliche Themen berichten können, von denen sie persönlich und direkt betroffen waren. So waren viele Zeitzeugen Opfer des Nationalsozialismus, doch außer ihnen treten auch andere Personengruppen, wie z. B. frühere Widerständler, Alliierte oder NS-Funktionäre, als Zeitzeugen auf; außerdem können auch Nachkommen wichtiger Personen als sekundäre Zeitzeugen auftreten.

Anfangs übten sie eine kritische Funktion für das Geschichtsbild der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit aus, als sie individualisiert „Gegengeschichte“ zum gängigen Geschichtsnarrativ erzählten. So halfen sie bei der NS- und insbesondere Holocaustaufarbeitung, wodurch sie dafür sorgten, dass dieses Kapitel deutscher Geschichte aus Opferperspektive medial aufgegriffen wurde und das öffentliche Bild prägte. Dadurch blieb ihnen seither wiederum bloß eine affirmative Funktion, in denen das so konstruierte Geschichtsbild nur noch bestätigt wurde.

Zeitzeugen sind medial verfasst. Ihre Zeugenschaft wird in diversen Medien festgehalten, u. a. im Fernsehen. Dort traten Zeitzeugen erstmals in der Show „This is your life“ in Erscheinung, wurden beim Eichmann-Prozess in alle Welt übertragen und ab den achtziger Jahren in unter Leitung Guido Knopps entstandenen Dokumentationen im ZDF ausgestrahlt. Knopps dokumentarischen Formate der Redaktion für Zeitgeschichte erreichten nicht nur hohe Quoten zur Primetime, sondern ernteten auch harte Kritik. Diese gilt dabei nicht nur den Sendungen per se, sondern auch ihrem Umgang mit Zeitzeugen: Wulf Kansteiner erkennt „ein durchweg autoritäres Verhältnis zwischen Kommentar und Zeugenaussage. Der Sprecher machte die Kernaussagen, die der Zeuge dann  bestätigte.“

Demnach kämen die Zeitzeugen in den Sendungen nur ihrer affirmativen Aufgabe nach. Die Frage, ob oder inwieweit dies stimmt, wird diesem Blogeintrag zugrunde liegen: Welche narrativen Funktionen haben die Zeitzeugen in den Knopp‘schen Geschichtsdokumentationen des ZDF Ende der neunziger Jahre? Um das zu untersuchen, werden wir uns an der zweiten Episode Mengele – Der Todesarzt der zweiten Staffel der Serie Hitlers Helfer orientieren. Sie bietet einerseits ein zu einem gewissen Grad austauschbares Beispiel, andererseits kommen in der Sendung von 1998, als sich das Geschichtsfernsehen als Primetime-Format etabliert hat, einige typische Narrative besonders anschaulich zum Vorschein.

Die Untersuchung der Dokumentationen ist außerdem sinnvoll, weil sie laut Frank Bösch „vorzügliche Quellen für die Geschichtskultur der Zeit“ bieten. Schließlich spielen Massenmedien nicht nur eine tragende Rolle bei der Verbreitung eines im kollektiven Gedächtnis festgehaltenen Geschichtsbildes, sondern konstruieren dieses auch mit. Deswegen sind die Sendungen auch mit Blick auf ihr Geschichtsbild von historischem Interesse. Doch nicht nur, was sie über Geschichte sagen, sondern auch wie, bedarf einer genauen, medienwissenschaftlichen Untersuchung. Und diese folgt nun:

Zeitzeugen…

Die Funktion des Zeitzeugen korrelierte seit seinem ersten Auftritt mit den Medien seines Auftritts, dem sozialen, politischen sowie kulturellen Umfeld seines Erscheinens, aber auch mit seinem Einfluss auf das allgemein-öffentliche Geschichtsbild bzw. dessen Wandel.

Eine frühe wichtige Rolle der Zeitzeugen fürs Geschichtsbewusstsein habe darin gelegen, „Gegengeschichte“ zu schreiben. Dem „geglätteten Distanzierungsritual“ konnten Zeitzeugen ihre subjektive und „konkrete Verfolgungs- und Leidensrealität“ entgegenhalten und so einer neuen Form der „Vergangenheitsaufarbeitung“ zum Aufstieg verhelfen. Der Historiker Norbert Frei lobt in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung diesen Beitrag „zur Aufklärung unserer Gesellschaft und damit zu ihrer humanen Ausgestaltung“. Hierzu brauchten und bekamen Zeitzeugen eine zunehmende mediale bzw. multimediale Präsenz  bzw. Omnipräsenz.

Allerdings führte diese laut Sabrow zu einer zunehmenden Verschiebung ihrer Funktion von dieser kritischen zu einer affirmativen Rolle. Dies bedeute nicht, dass diese „demokratische Gegenerzählung ‚von unten‘, die der Konzentration auf die totalitären Führer das Leiden ihrer Opfer und den abstrakten Faschismustheorien das konkrete Erleben von Verfolgung und Verstrickung gegenüberstellte“, ersetzt worden oder gescheitert sei. Stattessen sei sie sogar „zur master narrative unserer Zeit geworden, die im Schulunterricht wie im Geschichtsfernsehen oder in der politischen Gedenkrede das peinlich berührte Schweigen durch den Willen zur Aufklärung abgelöst hat.“ Die Opfer des NS hätten ihr Geschichtserlebnis demnach in den Vordergrund gedrängt und die Geschichtsaufarbeitung fundamental beeinflusst.

Erst dadurch, dass sich die Medien angepasst und auf diese master narrative eingestellt hätten, sei dem Zeitzeugen nur noch die Aufgabe geblieben, als lebendiger Beleg für die mediale Narration zu dienen: „Vielmehr erfüllt sein Bericht heute die illustrative Funktion einer in Fragmente zerlegten Zeugenschaft, die zur autoritativen Beglaubigungsinstanz der medialen Geschichtserzählung aufgestiegen ist.“ Durch ihren Erfolg, in der kritischen Funktion die  master narrative konstruiert zu haben, bliebe den Zeitzeugen nur noch eine affirmative Rolle. Autoritativ erfüllten sie dabei eine Funktion in Narrationen, die die master narrative aufgreifen, um dieser zu erhöhter Glaubwürdigkeit zu verhelfen.

So treten Zeitzeugenberichte in verschiedenen Medien auf bzw. sind ihre Zeugenschaften in solchen aufbewahrt; jedoch ist trotz ihrer auch heute noch immer hohen medialen Präsenz sowie ihrer prägenden Rolle fürs Geschichtsbild fraglich, welche Relevanz sie angesichts des Einflusses, den sie bereits genommen haben, noch haben können, bzw. wie, oder ob, die affirmative Funktion noch überwunden werden kann.

 

… im Fernsehen

Fernsehen ist ein audiovisuelles Medium. Es gibt eine Ton- und eine Bildspur, die beide miteinander verknüpft sind, wobei hat die Audiospur Vorrang hat: Das Fernsehen entwickelte sich technisch als visuelle Erweiterung des Radios aus einem Medium, das seine Inhalte nur akustisch vermitteln konnte (Stutterheim). Außerdem trägt seine Distributionsform auch dazu bei: Als „Medium, das im privaten Raum rezipiert wird“, bekommt das Fernsehbild nicht dieselbe Aufmerksamkeit wie vergleichsweise das Filmbild, das im Dunkeln auf eine Kinoleinwand projiziert wird. Daher spricht Hans-Ulrich Schlumpf sogar vom „illustrierte[n] Hörfunk“: „Das Bild ist sekundär, kommt hinzu und hat oft nur eine einzige erkennbare Funktion: die Authentizität des Gesagten zu unterstreichen.“ Daher wird für Hitlers Helfer bei strukturellen Fragen im Zweifelsfall die Audiospur zur Orientierung dienen.

Für die Bildspur sind im Kontext dieser Arbeit vor allem montagetheoretische Überlegungen, d. h. was durch die Aneinanderreihung von Bildern und Tönen geschieht, von Bedeutung. „Montage“ ist ein technischer Begriff, der einen Prozess des Zusammenbauens beschreibt. In der Montage wird demnach der Film gebaut: „Erst in der Montage und durch die Montage wird aus den filmischen Teilen ein Film“. Diese Montage organisiert eine Komposition aus den einzelnen Bestandteilen, um diese in ein Verhältnis zueinander zu setzen (siehe Bordwell/Thomposon: Film Art. An Introduction). Material wird ein- und aussortiert und kombiniert, wodurch etwas Neues geschaffen wird.

Es versteht sich, dass jede Verkettung von Bildern Auswirkungen auf das einzelne Element hat: Sie zeigt, worauf die Bilder hinauswollen, macht sie rückwirkend eindeutiger; zeigt, was ihnen noch fehlte, komplettiert  sie;  betont  oder  zentriert  gewisse  Informationen,  verstärkt oder verdoppelt sie; lässt sie als Glied einer Reihe erscheinen oder als Pol einer Binarität; stellt sie richtig, repariert Missverständnisse, erklärt das vorangehende Bild zum Fundament der folgenden – oder gerade nicht.

Die Montage ist ein jedem audiovisuellen Medium zugrunde liegendes System. Jedes einzelne Element innerhalb einer Montage wirkt sich in der Bedeutung auf die weiteren Elemente aus. Dass dies rezeptionslenkend eingesetzt wird, soll an dieser Stelle bereits vorweggenommen werden.

 

Hitlers Helfer: Genre und Stil

Bei Hitlers Helfer handelt es sich um eine Dokutainemt-Serie, wobei solche, die Geschichtsthemen behandeln, das Subgenre Historytainment bilden. Die Unterhaltung wird der Information übergeordnet, während weitere Funktionen von geringerer Bedeutung sind. Es gibt z. T. Überschneidungen mit dem Doku-Drama, dessen Erscheinung mit dem Aufstieg der Serien Knopps Ende der neunziger Jahre korrelierte. Doku-Dramen sind zumeist personenspezifisch und beinhalten außer Material diverser Herkunft auch nachgestellte Szenen. Hitlers Helfer portraitiert biographisch bestimmte wichtige bzw. sensationsträchtige Persönlichkeiten des NS, ohne diese dabei direkt in ihrer Rolle als Helfer Hitlers zu kontextualisieren.

Die Serie entstand Ende der neunziger Jahre, als sich die Formate der Geschichtsredaktion unter Knopps Leitung bereits zur Primetime im Programm des ZDF etabliert hatten. Frühere Sendungen Knopps wie Bilder, die Geschichte machten richteten ihren Fokus bereits auf Zeitzeugen. Für spätere Produktionen beklagt Wulf Kansteiner hingegen, im „Fließbandbetrieb Knoppscher Provenienz wurde folgerichtig die Definitionsmacht deutlich von den Zeitzeugen auf die Fernsehmitarbeiter verlagert“, was der Idee eines „neuen, effizienteren Umgang[s] mit den Zeitzeugen“ gefolgt sei.

 

Mengele – Der Todesarzt

Josef Mengele

Nach einer kurzen Vorausdeutung auf das Ende der Folge beginnt Mengele mit der Kindheit und Jugend Josef Mengeles. Danach geht es um seinen Aufstieg im Nationalsozialismus in der SS und seine Forschung am Kaiser-Wilhelm-Institut, die ihm den Weg für seinen nächsten Karriereschritt ebnen. Der Mittelteil handelt vorwiegend von Mengeles Arbeit in Auschwitz und dortigen Menschenexperimente, insbesondere an Kindern und Zwillingen. Dem folgt schließlich seine Flucht nach Südamerika am Ende des Zweiten Weltkriegs, wo er erst untertaucht, später aber das Interesse von Geheimdiensten weckt, die ihn allerdings nicht fassen. Die Folge endet mit seinem Tod.

Die Videospur besteht aus einer Montage diverser Aufnahmen, deren Herkunft nicht immer ganz eindeutig ist. Zu historischen Fotoaufnahmen von Personen, die die Kamera auch mit verschiedenen Techniken wie Schwenks oder Zooms zeigt, werden Wochenschauaufnahmen, die zu propagandistischen Zwecken entstanden sind, unkommentiert neben zum Entstehungszeitpunkt der Serie aktuellen Aufnahmen der historischen Schauplätze sowie auch inszenierte Szenen, Reenactments, montiert.

Als Beispiel hierfür kann eine Sequenz dienen, in der eine Zeitzeugin eine Anekdote über Grausamkeiten in Auschwitz erzählt: „Eines Tages hat [stammelt] er die Zwillinge…“ Einblendung: „Vera Alexander. Häftling in Auschwitz“. „… Dieter und Nina mitgenommen. Eins von den Kindern hatte einen Buckel. Er hat sie mitgenommen, mit, und… den nächsten Tag oder nach zwei Tagen zurückgebracht. [kopfschüttelnd] Das war… was Schreckliches!“ Hier setzt eine Überblendung zu einer Montage von Fotos leidender Kinder ein, Übergänge dazwischen finden ebenfalls durch Überblendungen statt. Die Zeitzeugin fährt indes fort: „Dass er die Kinder zusammengenäht hat, Rücken zu Rücken… Hände, die Adern… [Überblendung zurück zu ihr] Die Wunden waren voll mit Eiter. Die Kinder haben nicht mehr geweint, sondern wie, wie… [sucht nach Worten] gejammert.“

  



Eine sog. Sensationsmontage (19‘46“). Warum leiden die Kinder? Und warum wurden sie dabei fotografiert? Woher stammen die Bilder? Und warum werden sie in der Sendung an dieser Stelle aneinandergereiht? Die suggestive Verknüpfung von Audio- und Videospur zielt sehr direkt auf emotionale Affekte ab.

Die Fotos der zumeist leidenden Kinder sind schwarzweiß und weisen Beschädigungen auf; so suggeriert die Montage, dass sie aus Auschwitz stammen. Obschon dies durchaus möglich ist, könnten sie auch aus einer anderen Zeit oder von einem anderen Ort stammen. Ihre tatsächliche Herkunft ist aber nicht weiter für diesen Kontext interessant, sondern vielmehr die Möglichkeit, die ein derartiger Einsatz filmtechnischer Mittel bietet. Bei dieser Montage handelt es sich
streng genommen um eine Sensationsmontage, wie man sie vor allem aus Sergej Eisensteins Filmen kennt, deren Zusammenhang zur eigentlichen Narration sich eher kommentierend erklärt.

Die Bedeutung dessen, was sich auf der Bildspur findet, wirkt, getrennt vom vorgetragenen Text, auch in diesem Fall, sehr abstrakt. Über sie wird größtenteils ein Kommentar gelegt. Getragen wird die Narration größtenteils von diesem. Der Kommentar gibt die Haltung der Sendung vor, während diese wiederum den Kommentar konstruierte.

Um mögliche Verwirrungen zu antizipieren, soll an dieser Stelle für die Arbeit ein Unterschied definiert werden: „Narration“ oder verwandte Wörter beziehen sich auf die „filmische“ Narration, während mit „Erzähler“ die Erzählstimme gemeint ist. Dieser extradiegetische und expressive Erzähler dominiert die Sendung und agiert die Laufzeit über präsent und lenkend. Dabei wirkt er autoritär und orientiert sich in seinen Texten insgesamt konkreter, zuweilen lose, an historische Fakten, kommentier aber auch interpretativ und suggestiv.

Außer ihm gibt es noch die Zeitzeugenaufnahmen, die nicht selten auf der Audiospur etwas früher einsetzen und später aufhören als auf der Videospur, wodurch saubere Übergänge gewährleistet werden sollen – der sound hook, eine gängige Technik, die Bordwell auch in seinem Blog beschreibt. Ein Beispiel bietet der Beginn des zweiten Viertels: Nach zehn Minuten richtet die Episode ihren Fokus auf Auschwitz. Es wird Archivmaterial gezeigt. Dieses ordnet der Erzähler so ein: „Aus ganz Europa werden täglich tausende von Menschen nach Auschwitz geschickt.“ Dass die Bilder aus Auschwitz kommen, wird auch vom Kontext und der Montage nahegelegt. Nach dem Satz des Erzählers setzt eine Frauenstimme auf der Tonspur ein: „Dort waren wir zusammen mit die ganze Familie. Alle Kinder, große, kleine, alle sind wir zusammen. Aber wir haben nicht wusst, wohin.“ Die Frau spricht mit Akzent. Es folgt eine Überblendung zu ebenjener Frau, die fortfährt: „Irgendwo in ein Arbeit.“ Ihre Passage dauert an: „Vielleicht Arbeiten, …“ Ein Name und eine Beschreibung, „Magda Spiegel. Zwilling in Auschwitz“, werden eingeblendet, während sie fortfährt: „…  vielleicht für die Kind wird sein ein, äh, ein, äh, ein [sucht nach Worten] ein Kindergarten… so haben wir sich vorgestellt. [kopfschüttelnd] Von Auschwitz hat niemand gewusst.“ Dann sind Geräusche zu hören. Sie stammen vermutlich von dem Zug, der nach einem Schnitt zu Archivmaterial gezeigt wird und von dem im  Zusammenhang vermutet werden kann, dass die Vorbereitung, die gerade unternommen wird, einer Fahrt nach Auschwitz dient – jedenfalls im Kontext der Montage. Als zu einem fahrenden Zug geschnitten wird – die Montage legt nahe, es sei derselbe –  spricht die Zeitzeugin weiter: „Und so sind wir gefahren…“ Am Ende ihrer Erzählung folgt ein Schnitt zu zwei anderen Zeitzeuginnen.

Inhaltlich hat bei den Zeitzeugen das gesprochene Wort Vorrang, während die Bilder nur ihr Aussehen zeigen und ein Text eingeblendet wird, der die Zuschauer über den Namen der Person informiert und in wenigen Worten ihren Status im NS beschreibt. Größtenteils besteht die Sendung also aus Erzähler- und Zeitzeugensequenzen.

Außer den Zeitzeugen und dem Erzähler sind gelegentlich noch extradiegetische Musik oder andere Toneffekte auf der Audiospur zu finden, so z. B. die vom Erzähler als „Mengeles Melodie“ bezeichnete Musik: Zeitzeugin Vera Alexander behauptet, Mengele habe bei ihrer Ankunft in Auschwitz eine „Opernarie“ gepfiffen. Ebendiese Musik setzt ein, um die ganze folgende Sequenz um jene nachgestellte Szene zu unterlegen, die zeigt, wie Mengele die Menschen nach ihrer Ankunft in Auschwitz selektiert. Die Zeitzeugin beschreibt diesen Vorgang wie folgt: „Wie wenn er dirigiert hätte. … Rechts und links und rechts und rechts…“ Dann setzt eine Überblendung ein: Die nachgestellte Szene zeigt, wie Mengele, der einen weißen Handschuh trägt, seine Hand bewegt, als würde er dirigieren.

Effekte finden sich auch auf der Bildspur. Für den Inhalt dieser Arbeit sind sie aber von geringer Bedeutung, wohingegen auf die beschriebene Sequenz unter anderen Gesichtspunkten zurückgegriffen werden wird.

Nachgestellte Szene: Mengele dirigiert
 

Da der Ton dominant ist gibt die Audiospur auch die Struktur vor: Auf den gesprochenen Text des Erzählers folgen Aufnahmen eines oder mehrerer Zeitzeugen, auf diese wiederum der Erzähler. Diese Struktur auf der Mikroebene entspricht auch jener auf der Makroebene. Dies zeigt sich auch in einer für diese Arbeit angefertigte Statistik, die den prozentualen Anteil von Zeitzeugenaufnahmen pro Sendeminute der Folge angibt. Gemessen habe ich diese Zeit per Stoppuhr, was Abweichungen ergeben kann, welche sich allerdings mit weniger als einer Sekunde pro Passage im Rahmen halten.

 

Zeitzeugen schon vor der Titeleinblendung. Signifikanter Anstieg des Zeitzeugenanteils nach elf und Abfall nach 27 Minuten. Am Anfang und am Ende nur vereinzelte Zeitzeugenaufnahmen; in der Mitte wird die Sendung zu dem, was Kansteiner als „Zeitzeugenvignetten“ bezeichnete.

Die X-Achse zeigt die Sendezeit an, die Y-Achse den prozentualen Anteil der Zeitzeugenaufnahmen pro Sendeminute. Es fällt auf, dass anfangs nur vereinzelt Zeitzeugen in der Sendung auftauchten, davon allerdings auch welche schon sehr früh in der ersten und zweiten Minute, also noch vor der Titeleinblendung. Im Mittelteil wird sehr viel Sendezeit von Zeitzeugenaufnahmen beansprucht; teilweise werden sogar einzelne Sendeminuten gänzlich mit diesen gefüllt, was in Minute 21 und 24 geschieht. Hierzu sind die Aufnahmen länger als eine Minute oder werden so zusammengeschnitten, dass keine Erzählersequenz dazwischenliegt. Gegen Ende nimmt der Anteil wieder ab, das Meiste wird wieder über den Erzähler berichtet.

Dies ist durch die biographische Herangehensweise an Mengeles Leben bedingt: Am Anfang und Ende erfolgt die Narration größtenteils über den Erzähler, da es dort um die Kindheit und das Lebensende Mengeles geht, während im Mittelteil seine Tätigkeit im Nationalsozialismus steht und sich auch der Anteil der Zeitzeugenaufnahmen erhöht, da es viele Überschneidungen zwischen der Arbeit der Protagonisten im NS und den Biographien der Zeitzeugen gibt. Diese Struktur ergibt sich somit daraus, dass das Gros der Zeitzeugen durch die Zeit im KZ mit der Narration über Mengele verknüpft werden kann: Sie waren entweder selbst Opfer dortiger Experimente oder sind Zeugen solcher geworden. Dieser Abschnitt aus Mengeles Leben steht im Zentrum der Folge, da hier der größte historische Einfluss Mengeles stattfand. So sind die Zeitzeugen im Mittelteil größtenteils Holocaustüberlebende, während am Anfang und am Ende auch frühere Mitarbeiter, Geschäftspartner, Agenten oder sekundäre Zeitzeugen zum Einsatz kommen. Am sensationsträchtigsten sind die Erzählungen der Auschwitz-Überlebenden am Höhepunkt der Spannungskurve.

Daher haben auch die Zeitzeugen unterschiedliche Funktionen, die von ihrem Status abhängt und somit auch von ihrer Platzierung in der Sendung. In einem Diagramm, das nicht den Zeitzeugenanteil pro Sendeminute, sondern pro Achtel der Sendezeit, d. h. pro fünf Minuten, anzeigt, ergibt sich das folgende Bild:

Über 50% Zeitzeugenanteil im dritten bis fünften Achtel. Nach zehn Minuten geht es um die Ankunft der Zeitzeugen in Auschwitz, nach 25 setzt die Geschichte um Mengeles Flucht ein. Insgesamt beträgt der Zeitzeugenanteil der Sendung ca. 36,1% und somit mehr als ein Drittel der Sendezeit.



Daraus lässt sich die Sendung in Anfang (1. bis 10. Minute), Mitte (11. bis 25.) und Ende (26. bis 40.) aufteilen, wobei die Funktion der Zeitzeugen je nach Abschnitt variiert. In den ersten beiden und letzten zwei bis drei Achteln ist eine andere als in den beiden mittleren. Am Anfang und Ende wird im Detail von den Zeitzeugen konkretisiert, was im allgemeinen Kontext vom Erzähler gesagt wird, wobei diese Details prinzipiell von geringer Relevanz für den jeweiligen Punkt sind.

 

Elsa Haverich (5‘31“): „Ja, er war ein netter Mann.“

Heinz Truppel (35‘10“): „Pass auf, du wirst gesucht.“ Kurz darauf setzt ein interessanterer Zeitzeugenclip ein, als Zvi Aharoni („Mossad. Fasste Eichmann“), davon erzählt, wie er Mengele in Südamerika nahekam, bis er plötzlich abberufen wurde.


Sie erzählen dabei meistens keine Leidensgeschichten, wie es die in der Mitte (Achtel 3-5, z. T. auch 6) eingesetzten KZ-Überlebenden machen. Durch die Erzählung aus ihrem eigenen Leben fallen die Zeitzeugen insgesamt aus der Erzählernarration heraus, gleichzeitig erweitern sie diese um die Dimension eines individuellen Schicksals mit Identifikationsmöglichkeit.

Dadurch, dass in diesem Fall die Zeitzeugenaufnahme in die Erzählstimmennarration eingebettet ist, bekommt sie innerhalb dieser Struktur einen neuen Sinn, welcher sich auch in Rückkopplung mit der ihr folgenden Erzählerpassage auf diese auswirkt. Dadurch ergibt sich die Frage: Was ist dieses Neue, was hier durch die Montage erschaffen wird und welchen neuen Sinn bekommen der dort hinein eingebettete Zeitzeugenclip und der Zeitzeuge selbst?

 

Die inhaltliche und dramaturgische Funktion der Zeitzeugenclips

Die Zeitzeugen bekommen durch die Montage, die sie zwischen die Erzählersequenzen einbettet, auf inhaltlicher sowie auf dramaturgischer Ebene eine doppelte Funktion:

In den ersten zehn und bereits zunehmend ab den letzten fünfzehn, aber spätestens in den letzten zehn Minuten, erzeugt die Montage den Effekt, als stimmten die Zeitzeugen der Erzählernarration zu, weshalb sie hier eine affirmative Funktion ausfüllen. Sie werden herangezogen, um kleinere Details zu nennen, die reibungslos in den vom Erzähler vorgegebenen Rahmen passen. So darf beispielsweise eine frühere Mitarbeiterin Mengeles zustimmen, dieser sei „ein netter Mann“ gewesen. Es zeigt sich, dass potenzielle Reibungen antizipiert werden, indem die Zeitzeugenaufnahme zurechtgeschnitten oder der diese umrahmende Erzählertext angepasst wird, wobei auch die Entstehungszusammenhänge der Aufnahme, d. h. die Interviewsituation, undurchsichtig bleibt.

Zudem scheinen die Zeitzeugen durch ihre Einbettung sowohl ihre eigene Erzählung als auch die der Sendung zu bestätigen, was sich auch am obigen Beispiel zeigt, in dem die Sendung eine Position vorschlägt, für die sie sich genaugenommen selbst nicht festlegt. Mengele als „netter Mann“ wird zunächst Mengeles Frau in den Mund gelegt und anschließend von der Zeitzeugin bestätigt. Diese Bestätigung geschieht über ihre „Autorität des Dabeigewesenen“ (Näpel), die suggeriert, dass Zeitzeugen eine glaubwürdige Instanz darstellen und sie somit zu einer „nicht unproblematische[n] Quellengattung“ macht.

Hier erfüllen sie zusätzlich eine qualitative Rolle für die Sendung, da Glaubwürdigkeit ein Qualitätsmerkmal für Dokumentationen ist. Um authentisch und zuverlässig zu sein, seien Referenzen auf das „Außersprachliche“ der dokumentarischen Darstellung nötig, d. h. im Falle der ZDF-Geschichtsformate Zeitzeugen, und in einigen anderen Formaten etwa auch Experten oder Wissenschaftler.

Für die Erfüllung dieser autoritativen Funktion ist dabei ihre physische Präsenz entscheidend: Sie ist im Material des Mediums konserviert, das eine Realität, obschon mit medialen Begrenzungen, reproduziert (Kracauer). Dadurch können die Zeitzeugen diese Funktion auch außerhalb der Entstehungssituation der Aufnahmen ausfüllen und somit beibehalten. Dafür ist allerdings auch ein passendes soziales, politisches und kulturelles Wertesystem nötig.

 

In jeder Zeitzeugenaufnahme erfüllen sie allerdings zugleich auch eine konstruktive Funktion, deren Bedeutung vor allem im mittleren Akt, also in den Minuten 11-15, abflauend 16-20, größer wird, als die affirmative. Die o. g. Antizipation geschieht hier in der Dimension, dass sich die Erzählernarration komplett an der der Zeitzeugen orientiert, sodass gezeigte Archivaufnahmen und Reenactments einsetzen, während Zeitzeugen reden, um deren Gesagtes zu illustrieren. Als Beispiel kann u. a. die Szene dienen, in der der „dirigierende“ Mengele gezeigt wird, denn sie fußt hier allein auf Zeitzeugenaussagen. Die nachgestellte Szene setzt schon vor dem Zeugenclip ein, um diesen Umstand weniger offensichtlich erscheinen zu lassen, und wird schließlich durch den Erzähler mit einer Überleitung zur nächsten Szene beendet. Zeitzeugen- und Erzählersequenzen sind für einen reibungslosen Ablauf aufeinander angepasst.

Die biographisch bestimmte Persönlichkeiten des NS portraitierende Dokumentationsserie orientiert sich inhaltlich daher zumeist komplett an den Zeitzeugenberichten, wenn es um deren Erfahrungen im KZ geht. Der historische Rahmen ist faktisch größtenteils korrekt; der Teil, der aber auf erhöhtes Zuschauerinteresse abzielt, besteht aus Berichten über Mengeles kleine Angewohnheiten, Gesten, seine Art oder seinen Umgang sowohl mit Mitarbeitern als auch seinen Opfern. Hierdurch vermeidet die Sendung zugleich, „selbst“, d. h. durch den Erzähler, Unwahrheiten zu verbreiten: Die Zeitzeugenaussagen werden nur als solche in der Sendung eingebettet, ohne dass der Erzähler direkt behauptet, sie seien wahr. Stattdessen lässt er sie oft unkommentiert stehen; andernfalls ergeben sich interaktive Momente.

 

Dramaturgisch wird durch die Einbettung von Zeitzeugenaufnahmen zum Einen eine Pause von der Erzählernarration eingebaut. Diese Funktion dominiert vor allem am Anfang und am Ende. Die Erzählernarration wird hierzu kurz von Zeitzeugensequenzen unterbrochen, in denen jemanden aus seinem Leben erzählt. Im vorausdeutenden Prolog am Anfang redet der Erzähler über Mengeles Rückkehr nach Deutschland („Ein Massenmörder will nach Hause.“), was bald von einem Zeitzeugenclip unterbrochen wird, in dem die als „Ella Lingens. Häftling in Auschwitz“ vorgestellte Zeitzeugin Mengeles Aussehen („Ein hübsches Gesicht.“) beschreibt. So wirken die Pausen retardierend und beeinflussen zudem die Perspektive auf das Folgende.

Diese Unterbrechungen der einen Erzählebene zugunsten einer anderen geben auch den Rhythmus vor, der am Anfang und am Ende ruhiger, in der Mitte dagegen höher ist. Dies wird durch die Kürze der Clips gewährleistet. Allerdings findet sich in der Mitte nicht der „pausenreichste“, d. h. ruhigste Part, sondern der auf starke emotionale Wirkung abzielende Höhepunkt.

 

Die Zeitzeugenaufnahmen bieten also nicht nur Pausen, sondern auch Höhepunkte, denn andererseits finden an den Stellen, an denen die Zeitzeugen reden, gleichzeitig dramaturgische Vertiefungen statt. Dort gibt es statt einer allgemeinen, obschon kommentierten, Geschichtserzählung ein Individuum, das von seiner eigenen Geschichte bzw. Leidensgeschichte, Eindrücken sowie ihm oder anderen widerfahrenden Erlebnissen erzählt. So findet sich im Mittelteil der Episode etwa ebenjene schon im vorigen Kapitel erwähnte grausige Geschichte, die die Zeitzeugin Vera Alexander immer noch nach Worten suchen und mit Kopfschütteln reagieren lässt, als sie erzählt, wie zwei Zwillinge zusammengenäht worden seien. Dadurch, dass es die Zuschauer an diesen Stellen mit Individuen zu tun bekommen, gibt die Sendung ihnen eine Identifikationsmöglichkeit. Neben der Geschichtserzählung ist also auch die emotionale Teilhabe des Publikums ein sowohl inhaltlich als auch zeitlich zentraler Bestandteil der Sendung.

Daher lässt sich auch Wulf Kansteiners Begriffswahl der „Geschichtspornographie“  anzweifeln und um die Begriffe Geschichtshorror und Geschichtsmelodram erweitern. Diese These fußt auf Linda Williams‘ Aufsatz „Filmkörper: Gender, Genre und Exzess“ aus der feministischen Filmtheorie, die Parallelen zwischen jenen Genres erkennt und sie unter dem Oberbegriff „Körpergenres“ sammelt. So nutzt Mengele – Der Todesarzt etwa einen musikalisch entsprechend unterlegten Zoom zu Mengeles Augen, als eine Zeitzeugin darüber spricht, seine Augen nie zu vergessen, oder verordnet sich bereits mit dem Titelzusatz „Der Todesarzt“ in der Nähe des Horrorgenres. Was die Zeitzeugen als Miterlebende verstört hat, wird von der Sendung so eingesetzt, dass beim Publikum ein ähnlicher Effekt angestrebt wird.

Dabei interessiert sich die Sendung weniger qualitativ als quantitativ an Zeitzeugen, was sich darin zeigt, wie die Zeitzeugen in die bzw. der Montage eingebettet werden. Oft ist ihre Erzählung auf unter eine Minute gekürzt, um an als passend empfundenen Momenten eingesetzt zu werden. Dafür werden auch zusammenhängende Ausschnitte getrennt. Beispielsweise sagt der Erzähler an einer Stelle, als Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg gezeigt werden: „Im Sommer vierundvierzig müssen die Soldaten Hitlers weiterkämpfen, um den Völkermord zu decken. Und Mengele?“ Die Antwort überlässt er einer Zeitzeugin, deren Passage nach einem Schnitt einsetzt. Die bereits erwähnte Ella Lingens, diesmal als Doktor und Ärztin vorgestellt, erzählt, wie Mengele ihr einige seiner Forschungsunterlagen gezeigt habe. Schnitt zurück zu den Weltkriegsaufnahmen: Der Erzähler spricht nun wieder über die Kriegslage im Januar 1945. Es wird  zurück zur Zeitzeugin geschnitten, die ihre Passage von vorher beendet: Er habe ihr die Unterlagen gezeigt, um eine Zeugin zu haben, dass er nur wissenschaftliche Arbeit erledigt habe und ihr die „alles andere“ vorenthalten. Sie geht am Ende zwar mit ihrer Stimme hoch, doch ein Schnitt beendet die Aufnahme.

Ihre Passage wirkt zusammenhängend, doch wird kurzzeitig von einem Schnitt zurück auf die Erzählerebene unterbrochen. Dadurch könnte ein Teil der Erzählung zwischen den beiden gezeigten Ausschnitten entfernt worden sein; oder aber, diese Montage erfolgte schlicht nach dem zugrundeliegenden System. In der Regel ergibt sich durch dieses Zerschneiden und Einsetzen der Zeitzeugenpassagen die o. g. Anpassungsmöglichkeit, andererseits kann dieses Zerlegen der Zeitzeugenaufnahmen in kleinere Einzelteile auch systematisch mit Orientierung an der Struktur stattfinden.

So wird die Montage konstruktiv genutzt, um einen Zusammenhang zwischen zwei unabhängig voneinander entstandenen Materialien zu suggerieren. Hierzu werden die manipulativen Möglichkeiten des Mediums genutzt.

 

Fazit

Durch ihre Einbettung in die Sendung über die Montage werden etwas paradoxe inhaltliche und dramaturgische Doppelrollen für die Zeitzeugen im Fernsehen konstruiert. So erhalten sie sowohl affirmative als auch konstruktive Funktionen, was vom Kontext der jeweiligen Situation abhängt. Dies geschieht durch die reibungslose Anpassung der Erzählernarration und Zeitzeugensequenzen aneinander.

Zugleich bieten sie am Anfang und Ende Pausen von der Erzählernarration, während sie in der Mitte hingegen die Höhepunkte der Sendung darstellen. Dies stimmt sowohl mit der biographisch bedingten Struktur als auch dem Spannungsbogen überein. So ist der Rhythmus am Anfang und Ende mit weniger Zeitzeugenclips ruhiger als in der Mitte, wo nicht nur viel, sondern sogar das Gros der Sendezeit von ihnen beansprucht wird. Auch durch das Verhältnis der zeitlichen Größe der Passagen zueinander werden die Zeitzeugenclips struktur- und rhythmusgebend eingesetzt.

Durch diese ggf. antizipative Anpassung der Erzähler- und Zeitzeugensequenzen aneinander, die z. T. zu (scheinbar) interaktiven Momenten führt, bekommen diese einerseits eine wichtige autoritativ- affirmative und konstruktive Rolle, andererseits braucht die Sendung sie als Zeitzeugen per se mehr, als als Person; das Interesse gilt dieser schließlich nicht, da ihre fragmentarische Präsentation sie austauschbar macht; vielmehr gilt es den spektakulärsten und grausamsten Geschichten. Für die gemäß des Slogans der ZDF-Redaktion für Zeitgeschichte „Aufklärung braucht Reichweite“ sehr direkt auf emotionale Resonanz des Publikums und Breitenwirkung abzielende ästhetische Gestaltung sind die Zeitzeugen als Mittel zum Zweck wichtiger als ein Individuum, das Erkenntnisse über sich selbst ermöglicht.

Mit seiner Ausrichtung auf Erfolg am Fernsehmarkt beschränkt das Format dabei die Möglichkeit des Interesses der Sendung an Zeitzeugen mit. In einer Rede definierte Knopp 2003 den Anspruch seiner Formate wie folgt:

 „Es gilt, Qualität und Quote, Anspruch und Zuspruch, Markt und Marke miteinander zu verbinden. Seriöse Dokumentation darf so spannend wie ein Thriller sein – wenn die Ereignisse so spannend, so erschütternd sind, daß sie dies zulassen. […] Dies ist kein Abschied von seriöser Zeitgeschichte in der Primetime. Es ist allenfalls ein Abschied von der betulich-belehrenden Dokumentation, die nur in Nischen noch ihr Publikum findet.“

Wie sich die Knopp’schen Formate in diesem Spannungsfeld bewegen, kann dabei keinesfalls als Schablone dienen. Die narrative Form wurde dennoch auch von anderen Sendeanstalten übernommen und abgewandelt, sodass in vergleichbaren Formaten etwa mehr Experten und Wissenschaftler zu Wort kommen, was sowohl die Expertise als auch die Seriosität erhöht. Wäre ein solches Format auch für Knopps Dokutainment denkbar? Kansteiner ist skeptisch: „Geschichtswissenschaftler weinen einfach nicht genug vor der Kamera.“

Beim durchaus bemerkenswerten Versuch, große Persönlichkeiten des NS „als Mensch“ mit Charakterzügen, Gesten, Eigenarten zu präsentieren, ist Hitlers Helfer stark auf die vielen Details angewiesen, die nur Zeitzeugenberichte ihnen geben können. Ob diese immer korrekt sind, ist wiederum eine andere Frage.

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JH

 

 
 
 

Lesekram

  • Jürgen Baberowski, Unsägliche TV-Dokus: Geschichte für Trottel, URL: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/geisteswissenschaften/unsaegliche-tv-dokus-geschichte-fuer-trottel-12959986.html
  • David Bordwell/Kristin Thompson, Film Art. An Introduction
  • Frank Bösch, Bewegte Erinnerung. Dokumentarische und fiktionale Holocaustdarstellungen im Film und Fernsehen seit 1979
  • Christine N. Brinckmann, Die poetische Verkettung der Bilder
  • Christoph Classen, Der Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft.
  • Norbert Frei, Zeitzeugen
  • Monika Grassl, Das Wesen des Dokumentarfilms. Möglichkeiten der Dramaturgie und Gestaltung
  • Britta Hartmann/Hans J. Wulff, Editorial, Montage AV 20/1/2011
  • Wulf Kansteiner, Macht, Authentizität und die Verlockungen der Normalität. Aufstieg und Abschied der NS-Zeitzeugen in den Geschichtsdokumentationen des ZDF
  • Judith Keilbach, Mikrofon, Videotape, Datenbank. Überlegungen zu einer Mediengeschichte der Zeitzeugen
  • Guido Knopp, Zeitgeschichte im ZDF – Aufklärung braucht Reichweite
  • Siegfried Kracauer, Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit
  • Oliver Näpel, Historisches Lernen durch ‚Dokutainment‘?: Ein geschichtsdidaktischer Aufriss. Chancen und Grenzen einer neuen Ästhetik populärer Geschichtsdokumentationen analysiert am Beispiel der Sendereihen Guido Knopps
  • Christian Metz, Trucage and the Film
  • Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten
  • Hans-Ulrich Schlumpf, Von sprechenden Menschen und Talking Heads
  • Gerhard Schrumm: Montage, der Familie erklärt
  • Jan Taubitz, Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft
  • Linda Williams, Filmkörper: Gender, Genre und Exzess
  • Hanna Yablonka, Die Bedeutung der Zeugenaussagen im Prozess gegen Adolf Eichmann
  • Mengele – Der Todesarzt (Hitlers Helfer, S02E02, D 1998, 40 Minuten)


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