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Sonntag, 7. April 2024

Hitchcock vs. Lessing (2/2): „Es ist keine Kunst, alte Weiber zum Heulen zu bringen.“

 

 
Damit die Leser die Übersicht behalten - anders als Lessing. 
 

Lessings Problem in der Nullfokalisierung

Nachdem wir uns in Teil 1 der Theorie und ihrer Vorteile gewidmet haben, beleuchten wir hier die Probleme.

Der besondere Reiz der nullfokalisierten Erzählung liegt im Wissen des Zuschauers über die verschiedenen Motivationen der Charaktere, sodass es zu Missverständnissen mit großem dramaturgischem Gewicht kommen kann. Sie verlangt allerdings auch, dass die Erzählung die Übersicht über die Wissensstände aller Charaktere behält. Andernfalls könnten Handlungslücken auftreten, die, wenn sie auffallen, bewirken, dass der Zuschauer distanziert wird, mit Lessings Worten, seine Anteilnahme geringer ausfällt. Ein solches Problem tritt auch in Miß Sara Sampson auf und soll nun, wie auch Lessings Versuch, es zu kaschieren, hier beschrieben werden.

Gegen Ende offenbart Marwood Sara ihre geheime Identität und dringt „mit tötender Faust“ auf sie ein. Sara flieht. Es folgt die Szene, in der Marwood beschließt, ihr Gift gegen Sara einzusetzen. Ende des IV. Aktes. Am Anfang des V. Akt kommt Sara nach einer Ohnmacht wieder zu sich. Was ist passiert? 


Alles in dieser Erzähllücke Geschehene wird nun dialogisch rekonstruiert, wurde aber nicht gezeigt. Sara ist in Ohnmacht gefallen und hat von Betty, ihrer Bediensteten, Medizin bekommen, als sie wieder langsam zu sich kam. Marwood wollte dies mitbekommen. Als Sara wieder etwas stärker bei Bewusstsein ist, setzt der fünfte Akt ein. Ein wichtiger Satz, wahrscheinlich der wichtigste, über das Ereignis, das die Katastrophe direkt herbeiführt, fällt in diesem fünften Akt ganz nebenbei. Der Zuschauer weiß von Marwoods Plan, Sara mit Gift zu töten, doch die Frage, wie sie ihn umsetzen könne, bleibt zunächst offen und hält das Interesse hoch. Die Antwort fällt ganz nebenbei, an den Rand einer Szene gedrängt. Dieses Ereignis fällt ebenfalls in die Lücke zwischen dem Ende des vierten und dem Anfang des fünften Aktes: „Betty (im Abgehn). Ach! Norton, ich nahm die Arznei aus den Händen der Marwood! - -“

Was also ist geschehen? Sara eilte zu Betty, erzählte ihr das gerade Geschehene und fiel dann in Ohnmacht. In dem Fall wäre es absurd, dass Betty Marwoods gespielte Bestürzung glauben sollte.

Dann erzählte Sara ihr vielleicht bloß, dass Lady Solmes in Wahrheit Marwood ist. Schließlich spricht Betty bereits in V,1 von „Marwood“ und nicht mehr von Lady Solmes. Möglicherweise hat Betty, wie auch Sara, schon vorher Dinge über Marwood erfahren. Selbst andernfalls sollte sie durch Saras Verhalten doch skeptisch geworden sein und Marwood misstrauisch begegnen. Die Medizin für Sara von Marwood anzunehmen, die bestürzt spielt, ist nicht nachvollziehbar.

Das Stück erzählte bisher von einer unschuldigen, tugendhaften Sara – ihr Name ist anscheinend typisch für diese Art von Charakter – die durch ihren Wissensnachteil, der dadurch entsteht, dass ihre Gegner (Marwood) sowie ihre geliebten Menschen (Mellefont, Sir William) versuchen, sie zu täuschen, in eine Katastrophe gerät. Stattdessen wird ihr Tod nun durch ihre naive Bedienstete herbeigeführt. War dies Lessing so unangenehm, dass er den klärenden Satz in Bettys Abgang packt, während dem der Fokus bereits auf anderen Dingen liegt?

Wie Betty Marwoods gespielte Besorgnis glaubt, glaubt auch Sara Lügen. Sie hat dabei allerdings keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen: Diese Lügen werden von Waitwell oder Mellefont, zwei Vertrauten, ausgesprochen. Bei der ihr unbekannten Lady Solmes hingegen fragt sie hingegen: „Darf ich es auch glauben, Lady?“, oder vermutet andere Absichten, etwa, „daß Sie mich auf die Probe stellen wollen.“ Es wirkt ironisch, dass sie so auf die durch die ihr fremde Lady Solmes erzählte Wahrheit reagiert. An anderen Stellen verzichtet sie bewusst auf die Information über die Wahrheit: Erst beim Brief von Marwood an Mellefont, dann bei Marwoods Abschiedsbrief: „Können Sie mich denn nicht lieben, wenn Sie gleich noch Geheimnisse vor mir hätten?“, fragt sie an einer Stelle. Wissensnachteile sind ihr kein Problem, sie nimmt sie in Kauf; trotzdem ist die Figur bei weitem nicht so leichtgläubig, wie Betty. Dieser Charakterzug einer Nebenfigur soll also die Katastrophe herbeigeführt haben. Eine merkwürdige Lösung für dieses Problem.

Sinnvoller wäre es wahrscheinlich gewesen, Betty weiterhin glauben zu lassen, Marwood sei Lady Solmes. In Akt III Szene 6 teilt Sara ihren Wissensstand immerhin mit Betty: „Es ist Lady Solmes; eine Anverwandte meines Mellfont.“ Würde Betty dies weiterhin glauben, gäbe es in der Lücke zwischen dem IV. und V. Akt ein Missverständnis großer dramatischer Kraft; die Wissensstände bräuchten weiterhin nicht angeglichen zu werden, da durch sie Spannung bestünde. Außerdem wäre an der Katastrophe nicht die extrem leichtgläubige Betty (bzw. ihre Dummheit) schuld. Betty hätte bloß Sara geglaubt, die zu dem Zeitpunkt aber die Wahrheit noch nicht kannte. In der letztendlichen Version ist somit Mellefonts Ärger über Betty nachvollziehbar und mehr als gerechtfertigt. In der Version, die ich vorschlage, in der Betty ihren Wissensnachteil behält, wäre es nachvollziehbar, dass sie Lady Solmes‘ Medizin nimmt, aber auch, dass sich Mellefont im Affekt der Situation über Betty ärgert. Da Lessing durch Sara Betty die Fehlinformation über Marwoods Identität gab, könnte man auch annehmen, dass sogar geplant war, die Katastrophe auf diese Weise herbeizuführen; wenn nicht tatsächlich durch Bettys Leichtgläubigkeit die dramatische Wirkung geschwächt werden sollte, hat Lessing womöglich die Übersicht über die vielen verschiedenen Wissensstände verloren.

Bedenkt man den zweiten Teil von Lessings 48. Stück der Hamburgischen Dramaturgie, wo er die Narration bei Euripides verteidigt: Mit Lessings eigenen Worten muss dieser sich hier die Kritik gefallen lassen, „daß er uns die nötige Kenntnis […] nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht“. Wäre er nämlich beim von ihm selbst dramaturgisch stärker eingeschätzten Suspense geblieben, hätte diese Stelle wohl eine stärkere Wirkung erzielt. Anstatt dessen fällt dieser so wichtige Satz also, während Betty abgeht.

 

Fazit

„Wir haben nicht leicht etwas so rührendes gelesen, als dieses Trauer-Spiel, so uns mit Schauder und Vergnügen erfüllet hat.“ (Johann David Michaelis). 

„Herr Leßing hat seine Tragödie in Franckfurt spielen sehen und die Zuschauer haben drey und eine halbe Stunde zugehört, stille geseßen wie Statüen, und geweint.“ (Karl Wilhelm Ramler)

Trotz kleinerer Probleme, die Lessing zu verschleiern versucht, scheint dieses nullfokalisierende, auf Suspense aufbauende Trauerspiel sein Ziel erreichet zu haben. Lessings spätere polemische Abwertung der Überraschung kann durchaus auf dieser oder einer ähnlichen Erfahrung gründen.

Meyers Arbeit, aufzudecken, dass viele Bezüge zwischen Lessings Theorie und Praxis Konstruktionen des Interpreten sind, soll nicht geschmälert werden. Hier geht es einzig und allein um die Theorie im 48. Brief und um speziell dieses Stück desselben Autors.

An einer Stelle schreibt Meyer, dass in der Hamburgischen Dramaturgie „fremde Meinungen veröffentlicht werden, er [Lessing] in seiner eigenen Stellungnahme aber durchaus nicht präzis und sicher ist“; beides trifft nicht auf das 48. Stück zu, das Meyer kaum beachtet.

Meyers These, dass sich „jedes Zitat bei der Drameninterpretation nur aus dem Belieben des Interpreten ableiten“ kann, wirkt angesichts der dynamischen Entwicklung von Wissensaufteilungen im nullfokalisierten Trauerspiel Miß Sara Sampson unangebracht und ist ohnehin zu stark verallgemeinert. Weshalb soll der Gedanke so fernliegend sein, dass systematisch suspensereiche Situationen konstruiert und auseiander weiterentwickelt wurden? Diese Tatsache als beliebige Interpretation zu verstehen, erweist sich daher als wenig fruchtbar. Dass Lessings Theorie auf seine Praxis Einfluss hatte, oder umgekehrt, ist natürlich mit dieser Arbeit nicht erwiesen. Zumindest Überschneidungen beider Felder können aber nicht abgestritten werden.

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JAH

 

PS: Mea culpa, dass es so lange gedauert hat, den zweiten Teil zu schreiben. Den ersten auch, aber die Zeit habe ich mir genommen. Ich werde von nun an monatlich ähnliche, tiefer recherchierte Beiträge veröffentlichen. Nächstes Mal geht es um einen meiner Lieblingsfilmemacher, der quasi zur Geburtsstunde des Kinos aktiv war.

 

 Lesekram:

  • Bordwell: Hitchcock, Lessing, and the bomb under the table, URL: http://www.davidbordwell.net/blog/2013/11/29/hitchcock-lessing-and-the-bomb-under-the-table
  • Braun: Lessing im Urtheile seiner Zeitgenossen
  • Daunicht: Lessing im Gespräch
  • Genette: Die Erzählung
  • Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater
  • Lessing: Gesammelte Werke Band 6
  • Lessing: Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen
  • Meyer: „Hamburgische Dramaturgie“ und „Emilia Galotti“. Studie zu einer Methodik des wissenschaftlichen Zitierens entwickelt am Problem des Verhältnisses von Dramentheorie und Trauerspielpraxis bei Lessing
  • Richel: Gotthold Ephraim Lessing. Miss Sara Sampson
  • Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?,
  • Wulff, Hans J.: Die Maisfeld-Szene aus North by Northwest. Eine situationale Analyse (montage AV, 3/1/1994)

 

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