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Donnerstag, 21. Dezember 2023

Was fangen wir denn jetzt mit Kassovitz an?

 


La Haine und das Erbe der Nouvelle Vague

La Haine zeigt einen Tag aus dem Leben der in den Banlieues lebender Jugendlichen Vinz, Hubert und Saïd. Vor dem Hintergrund sozialer Spannungen hat sich Vinz eine verlorengegangene Polizeipistole zugelegt, mit der er vorhat, als Zeichen seines Widerstandes einen Polizisten zu erschießen, nachdem in der Nacht zuvor, in eskalierten Protesten, einer ihrer Freunde von der Polizei lebensgefährlich verletzt wurde. In dieser groben Handlungszusammenfassung zeigt sich bereits der Einfluss der Nouvelle Vague.

Das Leben einer früher marginalisierten Gruppe wird gezeigt.

Der Film ist episodisch aufgebaut, wobei die einzelnen Episoden dabei ihren Teil zur Verschärfung der Spannungen in der Gewaltspirale, der sich die Protagonisten nicht entziehen können, selbst wenn sie sich dieser bewusst werden, beitragen. Dies passt nur z. T. zur Vorstellung einer „Entdramatisierung“, die bedeuten würde, dass die Erzählung vom Alltag einer Figur das Fehlen einer Privilegierung von Ereignissen nach sich ziehen würde, wodurch der Anfang und das Ende hinsichtlich der Bedeutungsebene des Films entscheidend sind. Dies ist bei Filmen der Nouvelle Vague ein häufiges Merkmal.

Jedoch kann der These, dass nicht nur „handlungsrelevante“ Ereignisse ihren Weg auf die Leinwand finden,  entgegengehalten werden, dass per definitionem jedes gezeigte Ereignis in gewisser Weise gegenüber einem nicht gezeigten „privilegiert“ ist.

Filme der Nouvelle Vague sind „anti-spektakulär“. Der episodische Aufbau unterstützt diese Einstellung eigentlich für La Haine, doch gleichzeitig streben die Gewaltspirale und die zeitliche Begrenzung der Handlung, zwei klassische dramatische Merkmale, dem entgegen. Typisch für die epische Form sind die Szenen eher thematisch verbunden als handlungskausal und beleuchten Sachverhalte aus unterschiedlichen Perspektiven. So fügen sich Szenen mit antiklimaktischer Struktur in ein fast schon barockes dramaturgisches Grundgerüst, als an Truffaut, Godard & Co. zu erinnern. Vieles des Gezeigten bezieht sich zwar auf Lebensrealität und Alltag, jedoch endet der Film wortwörtlich  mit einem Knall.

Durch diese Art der Dramaturgie ergibt sich auch eine gefühlte Spontanität und Lebendigkeit, die als Markenzeichen der Nouvelle-Vague-Filme gelten kann; allerdings ist diese bloß scheinbar, da der Film genauso von Anfang bis Ende Aufnahme für Aufnahme geplant sein kann. Allerdings sind Spontanität und Lebendigkeit auch Aspekte der Produktion des Filmes, nicht nur der Ästhetik. Das Besondere ist hier eher, wie der Zuschauer in die diegetische Welt eingezogen wird.

In diesem Punkt ähnelt La Haine im Übrigen dem „inszenierten Dokumentarfilm“ Goodfellas. Diese Herangehensweise widerspricht allerdings gleichzeitig der Schaffung von Distanz, die von der Kamera gezielt forciert werde. In diesem Punkt bietet einzig die differenzierte ausgearbeitete Figurenkonstellation so etwas wie eine Übereinstimmung. Dabei kann diesen Widersprüchen jedoch auch die ästhetische Vielfalt der Nouvelle Vague entgegengehalten werden. An anderen Stellen gibt es sogar sehr direkte Verweise auf den Goodfellas-Regisseur, etwa wenn Vinz vorm Spiegel Taxi Driver zitiert. Eine „cinéphilie“ der Filmemacher, die sich in Hommagen und Anleihen ausdrückt, ist ebenfalls Nouvelle-Vague-typisch.

Ein anderes Merkmal der Nouvelle Vague: Die Filme sind sich ihrer (filmischen) Vergangenheit bewusst und somit auch sich selbst als Film. Man kann von selbstreflektiertem filmischen Modernismus sprechen. Demnach kommen in Nouvelle-Vague-Filmen Aufnahmen und Techniken vor, mit denen die Zuschauer daran erinnert werden, dass sie einen Film schauen. Hier lassen sich viele Momente aus La Haine nennen, wo ebendies geschieht. Besonders markant sind dabei auch Sequenzen am Anfang und am Ende des Films, den bedeutungsreichsten Momenten im „entdramatisierten“ Film.

Am Anfang gibt es eine Szene, in der Saïd einer Reihe von Polizisten, die an ihren Autos stehen, gegenübersteht; erst bewegt sich die Kamera von vorne und nach einem Schnitt von hinten an ihn heran, dann über seinen Kopf hinweg auf die Polizisten und fährt nach einem Schnitt von links nach rechts die Beamtenreihe entlang, um schließlich das Publikum zu überraschen und Saïd dabei zu zeigen, wie er auf eines der Autos mit Graffiti beschmiert. Wie er es so schnell geschafft hat, wobei „schnell“ sich natürlich auf die leinwandliche Zeit und nicht die diegetische bezieht, Schnitte allerdings i. d. R. für die Überbrückung zeitlich kürzerer Distanzen der Diegese stehen, unbemerkt die Distanz zwischen seinem Standort und den Polizeiautos zu überwinden, wird – dementsprechend – natürlich nicht gezeigt. Oder anders: Wäre La Haine kein Film, wäre Saïd nicht an der Polizei vorbei und die Autos gekommen.

Später folgt eine Aufnahme aus einem Lagerraum heraus; als das Tor schließt, wird das Bild schwarz und auf diesem schwarzen Hintergrund wird, wie auch zu einigen anderen Zeitpunkten des Films, die Uhrzeit eingeblendet. Noch etwas später gibt es eine Aufnahme, in dem die Kameraarbeit sich selbst in den Vordergrund drängt, als ohne diegetische Motivation, also rein dramaturgisch, eine Warp-o-cam eingesetzt wird, bei der die Bewegungsrichtung der Kamera und der Zoom in entgegengesetzte Richtungen wirken.

Am markantesten dürfte jedoch die Kamera- und Schnittarbeit am Ende sein: Als Vinz fahrlässig erschossen wurde, wird wieder via Schwarzbild die Uhrzeit eingeblendet, nur um von 6:00 Uhr auf 6:01 Uhr zu wechseln: Ein Moment extradiegetischer Retardation. Wichtiger ist aber, was danach passiert: Als Vinz‘ fahrlässiger Mörder und Hubert gegenseitig die Pistolen aufeinander richten, nähert sich die Kamera dem beobachtenden Saïd und endet in einem Close-up. Dass im Off jemand, vermutlich Hubert, schießt, präsentiert der Film vor allem über die akustische Ebene und ein kurz in Saïds Gesicht fallendes Licht, bevor ein Schnitt die Szene beendet und vor dem einsetzenden schwarzen Hintergrund die Credits gezeigt werden – nicht aber, wer geschossen hat: Durch diese Art der Fokalisierung erfährt das Publikum nur bis zu einem gewissen Grad, was passiert, bevor der Film ihm andere Informationen gezielt verweigert. Es ist nicht mehr relevant, wer geschossen hat (obschon die Zuschauer gerne darüber diskutieren dürfen), sondern, dass geschossen wurde. Derlei Momente sorgen nicht selten für eine Präsenz der Kamera und lenken einen gewissen Grad der Aufmerksamkeit auf die Machart des Films selbst. Schlussendlich sind auch etwaige Voice-overs direkt ans Publikum gerichtet.

Im Kern ist La Haine vielleicht weit von der Nouvelle Vague entfernt, einige Ideen fußen aber im Erbe jenes Moments, der das (französische) Kino „umkrempelte“. Kassovitz‘ Film profitiert somit von den Errungenschaften der Nouvelle Vague, ohne sich dabei immer und ausschließlich auf diese zu beziehen. Vielmehr gibt es anscheinend eine künstlerische Nähe zu Scorsese, dem eine Inspiration durch die Nouvelle Vague nachgesagt wird, die sich sowohl in direkten Hommagen als auch in größerem Maße an der (der Nouvelle Vague zu verdankenden?) grundlegenden Herangehensweise zeigt.

 

Guck-und Lesekram

  • La Haine/Hass (Frankreich 1995)
  • Greene: The French New Wave.
  • Küchler: Möglichkeitsräume

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