Schattenspiele sind nicht genuin türkisch. Die Schattenspiele in Persien, der Türkei, Ägypten, dem Nahen Osten und Nordafrika stammen alle vom chinesischen Schattenspiel ab. Außerdem gibt es Ähnlichkeiten, zuweilen starke, zwischen charakteristischen Elementen des türkischen Schattentheaters mit jenen in Ägypten (seinem direkten Vorläufer), Indonesien, Japan, aber auch mit dem chinesischen (gerade in Bezug auf die Figur Karagöz) und insbesondere dem taiwanesischen. Dadurch zeigt sich auch die starke Popularität und die Tradition des Schattentheaters bzw. von Schattentheaterformen in Asien.
Wann Schattenfiguren das erste Mal an die Leinwand gepresst wurde, ist unklar. Allerdings steht eine lange Tradition fest: Das Karagöz-Schattenspiel verbreitete sich weit und breit mit der Expansion des Osmanischen Reiches.
Verschiedene Anekdoten oder Geschichten erzählen schon von Schattenspielen im vierzehnten Jahrhundert, was allerdings historisch nicht mit Sicherheit bestätigt werden kann.
Sicher ist, daß seit dem 16. Jahrhundert das türkische Schattentheater – nach seinem Haupthelden Karagöz benannt – weiteste Verbreitung im osmanischen Reich fand. Es entwickelte sich in kürzester Zeit zu einer vollkommen selbstständigen türkischen Kunstart eigenen Charakters.
Wenn sich das Karagöz-Theater also zu einer selbstständigen Kunstart entwickelte, steht er somit nicht im Widerspruch zur chinesischen Abstammung der Kunstform; bloß der Grad der Emanzipation des Karagöz-Theaters von seinen Vorgängern ist anscheinend diskutabel. Dennoch gibt es spezifische Charakteristika bei Karagöz (als Gattung), die seine Autonomie zeigen. Der Aufbau der Stücke ist sehr geregelt und dadurch speziell, wie auch die Figurenkonstellation und die eigenartige Humor-Balance.
Ästhetik des Schattenspiels
Das türkische Schattenspiel imitiert nicht die Realität und will diese auch nicht imitieren. Ein Vorhang trennt den Raum; auf der einen Seite die Zuschauer, auf der anderen der hayali, der Schattenspieler, mit seinen Assistenten. In der Mitte des Vorhangs ist eine kleine Leinwand. Dahinter zwei Lichter an der Seite, die Gegenlicht auf die Leinwand werfen. Das Flackern bei ‚klassischen‘ Beleuchtungsmethoden trug zum mysteriösen Charakter der Show bei.
Dann drückt der hayali die (gefärbten) Puppen mit einem Stab an die Leinwand. Er bewegt alle, er spricht alle. Das türkische Schattenspiel ist im Prinzip eine One-man-Show. Dies betont auch der Schattenspieler Taceddin Diker in einem Interview:
Musikalisch begabt muß der Spieler auf jeden Fall sein. Die einzelnen Sprecher im Stück müssen in unterschiedlichem Tonfall reden, eine gleichtönige Sprache würde die Zuschauer langweilen. Karagöz ist im Grunde ein Einmanntheater: Der Spieler muß sich in Literatur, Phonetik und Diktion auskennen.
Wenn er das Stück aufführt, muss er es außerdem auswendig kennen. Schattenspieler haben zu keinem Zeitpunkt Texte für ihr Spiel genutzt. Die Spiele wurden rein mündlich weitergegeben. Das erklärt das Fehlen alter Theatertexte.
In der westlichen Theatertradition wäre das Fehlen von Texten unvorstellbar. Tatsächlich gibt es auch Texte zu den Karagöz-Spielen, aber diese stammten frühestens von 1900 und seien außerdem bereinigte Fassungen, in denen allzu große obszöne Scherze, aber auch radikale, politische Kritik zensiert wurde. Scharfe Kritik oder derbe Scherze, in denen etwa Karagöz‘ Penis gezeigt wurde, konnten so leider nicht mehr überliefert werden.
Mittlerweile seien die Stücke auch nicht mehr satirisch, sondern eher volkstümliche Darbietungen für Kinder und Erwachsene. Im Interview mit Diker antwortet dieser auf die Frage nach dem politischen Bezug der Stücke: „Ein Künstler beschäftigt sich normalerweise nicht mit Politik.“ Eine vertretbare Antwort, die allerdings nicht so ganz zur Geschichte des Karagöz passen mag, und auch die Frage aufwirft, inwiefern das Fehlen satirischer Elemente eine Reaktion auf die politische Lage in der Türkei darstellt. Darüber hinaus fällt so eine weitere Komponente des Humors weg.
Aufbau der Stücke
Die Karagöz-Stücke halten sich strikt an eine feste Struktur aus vier ‚Akten‘:
1. Der Prolog
2. Der Dialog (Muhavere)
3. Das Spiel (Fasıl)
4. Der Epilog
Dabei sind diese vier ‚Akte‘ nicht als Handlungsstruktur zu verstehen, sondern sind thematisch nicht verbunden.
Zunächst wird durch das am Anfang erstmals auf die Leinwand fallende Gegenlicht ein göstermelik gezeigt; die Möglichkeiten sind vielzählig. Allerdings scheinen diese göstermelikler erst später hinzugekommen zu sein, denn oft sähen sie so aus, als hätte man sie aus einem europäischen Buch aus dem 19. Jahrhundert oder Illustration aus einem Magazin kopiert.
Der Prolog beginnt mit Hacivats Auftritt, i. d. R. von links, zu einer Strophe aus einem Lied aus dem 18. oder 19. Jahrhundert (şarkı), gesungen von einem Assistenten des hayali. Dann rezitiert Hacivat das Vorhangsgedicht (Perde Gazeli) und sagte eine rituelle Formel, beginnt dann einen Monolog, in dem er sich Unterhaltung wünscht. Schließlich schaut Karagöz aus seinem Haus (gedacht rechts, gegenüber von Havicats Haus links, beide ‚im Off‘), kommt dann herunter. Sie prügeln sich, Hacivat flieht, und Karagöz hält nun seinen Monolog, in dem er sich beklagt und der zugleich Hacivats Monolog parodiert. Mit Karagöz bekommt der ganze rituelle, zeremonielle Ablauf eine überraschende Wendung zum Komischen, wobei die Überraschung natürlich keine Überraschung ist, wenn der Ablauf bekannt ist. Doch durch diese Zäsur wirkt der Ablauf wie eine Parodie seiner selbst. Die ganze Zeremonie mit ihrem fest geregelten Ablauf wirkte eher mystisch, und das komische Element wirkt nicht, als würde es sich mit dem Mystischen vereinbaren lassen. Man könnte sagen, die Zeremonie macht sich über die Zeremonie lustig.
Es folgt das Muhavere, in dem die Gegensätzlichkeit von Karagöz und Hacivat zum Ausdruck kommt. In diesem Dialog werden Worte verdreht, falsch verstanden, oder mit anderen vertauscht. Diese Szene gehört somit den beiden wichtigsten Figuren: Karagöz („Schwarzauge“), der dem Schattentheater den Namen gibt, und Hacivat. Diese beiden „Freund-Feinde“ bilden das Gegensatzpaar, das im Zentrum des Stückes steht: Karagöz ist immer in Opposition, ein einfacherer, grober Mann, in jeder Beziehung schlagfertig, absolut ungebildet, tölpelhaft, immer hungrig, auf der Suche nach Arbeit und Geld; Hacivat tritt als gebildeter und kultivierter Mann der Oberschicht auf, doch sein souveränes Auftreten entbehrt einer materiellen Basis – ein Schema, das wir beispielsweise von Charlie Chaplins Tramp kennen. Selbst die Farben ihrer Kleidung bilden einen Komplementärkontrast: Karagöz trägt hauptsächlich Rot- und Hacivat Grüntöne.
Doch nicht nur in Gegensätzen, sondern auch in Übereinstimmungen zeigt sich die Verbindung zwischen den Figuren: Dazu dient vor allem das Fasıl: Hier findet das Stück statt, mit Handlung und erzählter Geschichte. Es treten somit auch andere Figuren als Karagöz und Hacivat auf. Diese sind vielzählig, aber gleichzeitig begrenzt und mit bestimmten, stückübergreifend an die Figur gekoppelten Charaktermerkmalen ausgestattet, die verschiedene Gruppen oder Minderheiten der Gesellschaft repräsentieren und deren Auftritt mit einem charakteristischen Lied verbunden ist. Ihre Spannung und Komik beziehen diese Stücke aus dem Aufeinandertreffen der verschiedenen Typen. Das Karagöz-Theater ist also ein volkstümliches Typen-Theater.
Dadurch könnte man meinen, für die Komik der Stücke wäre die Karagöz-Figur gar nicht so notwendig. Allerdings sind die Figuren alle um ihn herum organisiert. Sie stellen ein Gag-Potenzial zur Verfügung, das aber nur durch Karagöz zur Geltung kommen kann. Dieser beeinflusst auch maßgeblich, wie viel des Gag-Potenzials präsentiert werden kann. Größtenteils agiert er dabei unabhängig, wobei seine Verbindungen zu den verschiedenen Figuren unterschiedlich stark sind.
Die Gags reichen dabei über ein breites Spektrum: Von scharfsinnigen Beobachtungen über politische Satire, von erotischer Konnotation über derbe Witze bis zur einfachen Prügelkomik. Um den Humor der Wechselwirkung der Typen aufeinander aufrechtzuerhalten, gibt es auch keine größeren Charakterentwicklungen. Die Art der Personen bleibt gleich.
Am Ende steht der recht kurze Epilog, ein erneutes Gespräch zwischen Karagöz und Hacivat. Dieser verschwindet nach dem Vorwurf, dass Karagöz die Leinwand, also die „Bühne“, zerstört habe, und der Drohung, dies dem Besitzer mitzuteilen. Dadurch wird die Vierte Wand bzw. die Illusion gebrochen – meta vor der Postmoderne. Auch an Selbstironie mangelt es den Stücken somit nicht. Karagöz entschuldigt sich für alle Ausrutscher, die sich seine Zunge erlaubt hat, durchaus ironisch vom Stück, nicht von Karagöz, und verspricht Hacivat mehr Schläge im morgigen Stück.
Der rituelle Charakter, die wiederkehrende Selbst-Desillusionierung, und das breite Spektrum an Humorarten geben eine interessante Komposition ab, deren Ergebnis das Karagöz-Theater ist; heute zwar noch populär, aber weniger ergiebig als das frühere. Immerhin wurde es 2009 Weltkulturerbe.
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JH
Lesekram:
Bobber: Türkisches Schattentheater KaragözChen: Shadow Theatres of the World
Oral: Karagöz. Turkish shadow play
Tietze: The Turkish Shadow Theate
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